Kritik und Fortschritt in der Heilpädagogik
Von Christoph Anstötz
In dem Beitrag wird eine Fortschrittsidee skizziert, die 1) von der grundsätzlichen Annahme ausgeht, daß Vollkommenheit in unseren pädagogischen Problemlösungen unerreichbar ist, aber 2) auch von der Überzeugung, daß durch konsequente Kritik, durch eine kontinuierliche Beseitigung von Fehlern und Mängeln in unseren heilpädagogischen Vorstellungen Verbesserungen erreicht werden können, die letztendlich den behinderten Menschen zugute kommen. In berufsethischer Hinsicht ergibt sich daraus die Forderung, künftig zwischen Argument und argumentierender Person stärker als bisher zu trennen, um eine Grundvoraussetzung für kritisch-konstruktive Auseinandersetzungen in der Heilpädagogik zu schaffen.
This article outlines an idea of progress, stating, that all human problem-solvings are fallibel. This idea also includes the conviction, that by consequent criticism, by continuing elimination of deficiencies in our pedagogical knowledge one can reach improvements, that eventually meet the needs of handicapped persons. In order to realise this idea it is necessary to discriminate between argument and argumenting person; for this an indispensable precondition to make controversial discussions possible.
Einleitung
Die Zeit, in der sich, wenn auch ganz allmählich, ein Generationenwechsel in der Behindertenpädagogik vollzieht, scheint für eine kritische Reflexion der bislang dominierenden Methodologie und damit zusammenhängender berufsethischer Prinzipien in der Heilpädagogik günstig zu sein. Es ist allerdings zu bedenken, daß das Herauspräparieren gängiger Regeln des bisherigen heilpädagogischen Wissenschaftsbetriebes, ihre Analyse und Kritik wohl kaum zu raschen Erfolgen führen wird. Denn es ist ja nicht nur verständlich sondern durchaus angezeigt, daß das, was Wissenschaftler über zwei Jahrzehnte und länger in der Heilpädagogik bewirkt haben und die hinter diesen Unternehmungen stehenden Regeln und Ideen nicht kurzerhand aufgegeben werden. Unausweichlich wird es Auseinandersetzungen geben zwischen traditionellen Auffassungen und Versionen einer modernen kritischen Heilpädagogik, für die andere Forschungsregeln in Frage kom
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men. Es handelt sich dabei um Regeln, die sich auf dem Hintergrund gegenwärtiger philosophischer Strömungen etwa der Transzendentalphilosophie, des kritischen Rationalismus, des Konstruktivismus, der kritischen Theorie etc. legitimieren lassen, und zwar in einer Weise, die auch einer fachphilosophischen Prüfung standhält.
Erkenntnisfortschritt und die darwinistische„Methode der natürlichen Auslese” untüchtiger Hypothesen
Wenn man von der generellen Fehlbarkeit menschlicher Vernunft ausgeht, derzufolge man keine Problemlösung, sei es im Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis, ethischen Denkens oder heilpädagogischer Praxis, als vollkommen bezeichnen kann, dann ist es folgerichtig, die Hoffnung auf und die Suche nach perfekten Lösungen aufzugeben(vgl. Albert 1980). Aber die Aufgabe des Strebens nach einer absoluten Gewißheit,
wie sie in den verschiedenartigsten Varianten auch heute noch durch Dogmatisierung irgendwelcher Bestandteile unserer Überzeugungen offeriert wird, muß keineswegs in einer resignativen Haltung enden und zum Skeptizismus führen. Vielmehr kommt hier ein Kritizismus in Betracht, der die Idee enthält, unsere wissenschaftlichen Theorien ebenso wie unsere ethischen Entscheidungen und Prinzipien als Vorschläge zu betrachten und der kritischen Prüfung zugänglich zu machen, und die Chance zu nutzen, Irrtümer, Mängel und Schwächen in unseren Auffassungen zu entdecken und diese dann gegebenenfalls zu revidieren. Das Ziel ist also nicht, irgendeines fernen Tages doch zu einem sicheren Fundament unserer Anschauungen vorzudringen, sondern mit Hilfe von Konstruktion und Kritik, von Vermutung und Widerlegung einen Fortschritt zu erreichen, indem wir Fehler erkennen und uns bemühen, durch ihre kontinuierliche Beseitigung zu immer besseren Lösungen zu kommen.„Diese Einstellung mit ihrem Nachdruck auf
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987