Christoph Anstötz: Kritik und Fortschritt in der Heilpädagogik
Argument und Erfahrung, mit ihrem Wahlspruch«ich kann mich irren, du magst recht haben, aber gemeinsam werden wir vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen» ist... der wissenschaftlichen Einstellung nahe verwandt. Sie ist mit der Idee verbunden, daß jedermann zu Fehlern neigt, die er selbst, oder andere, oder er mit der Hilfe und der Kritik anderer zu entdecken vermag” (Popper 1980, 293).
Wo immer in der Heilpädagogik auf wissenschaftliche Theorien zurückgegriffen wird, um die mit einer Behinderung verbundenen Probleme zu klären und schließlich zu lösen, muß es nach dem Selbstverständnis dieser Disziplin darauf ankommen, nur wirklich bestes Wissen zur Anwendung kommen zu lassen. Jeder Heilpädagoge, gleich welcher Herkunft, dürfte das unterschreiben. Wie sich allerdings feststellen läßt, ob es sich um bestes Wissen handelt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Von dem hier eingenommenen Standpunkt erhält den Zuschlag die Methodologie der kritischen Prüfung, die gerade nicht darauf abzielt,„der wissenschaftlichen Praxis Hilfestellung bei der Rechtfertigung und Verankerung bestimmter ohnehin dominierender Auffassungen zu geben. Sie muß vielmehr davon ausgehen, daß es wichtiger ist, deren kritische Beurteilung und ihre Revision zu ermöglichen, um den Erkenntnisfortschritt zu erleichtern”(Albert 1980, 37).
In einer Diskussion im Dienste der Wahrheitssuche kommt es darauf an, das Pro und Contra einer prüfbaren Theorie möglichst unpersönlich abzuwägen. Die Qualität eines Arguments oder einer pädagogischen Theorie steht also in keinerlei Beziehung zu der Person, die sie vertritt; sie ist eben nicht„auf Grund der Anzahl, des Glaubens und der Lautstärke ihrer Anhänger(zu beurteilen)...: Wahrheit läge dann in der Macht”(Lakatos 1974, 91). Das Urteil über eine Theorie erweist sich vielmehr darin, wie erfolgreich sie kritischen Prüfungen standgehalten hat und wie hart und wie schonungslos derartige Prüfungen gestaltet gewesen sind. Wenn es uns in der Heilpädagogik tatsächlich darum
geht, bestes Wissen für die Behindertenarbeit zu entwickeln, dann kann das am ehesten durch einen Prozeß geschehen, den Darwin in einem anderen Zusammenhang bekanntlich als„natürliche Auslese” bezeichnet hat, ein Bild, das Popper(vgl. besonders 1974) zur Charakterisierung seiner Erkenntnistheorie immer wieder benutzt.„Wenn wir wollen, daß die Methode der Auswahl durch Eliminierung funktioniert und daß nur die lebenstüchtigsten Theorien am Leben bleiben, dann müssen wir dafür sorgen, daß ihr Kampf ums Dasein hart ist” (Popper 1979, 105).
Behinderung, Subsidiarität und die erkenntnistheoretische „Methode der Auslese”
Um nicht alte Ideen immer nur neu aufzuwärmen, sondern einen Fortschritt in der heilpädagogischen Theorie und Praxis zu erzielen, ist es also erforderlich, unsere Auffassungen gewissermaßen einem ständigen Konkurrenzkampf auszusetzen, so daß nur die jeweils bewährtesten Theorien die Chance haben, in der Behindertenarbeit verwertet zu werden. Psychologisch aber dürften einer derartigen Wissenschafts-Methodologie, die darüber hinaus auch in ethischer Hinsicht bedeutsam ist, ausgerechnet in der Heilpädagogik einige nicht geringe Schwierigkeiten im Wege stehen. Denn schon der Gedanke an Konkurrenz, Auseinandersetzung, Konflikt oder gar an darwinistische Ideen wird zunächst große Probleme haben, in einer Disziplin anzukommen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Schwachen, den Behinderten zu helfen und wo Prinzipien der Humanität und„Subsidiarität” (Buchkremer 1976) das ganze pädagogische Denken bestimmen. Und gerade solchen Pädagogen, die die Behindertenarbeit zu einem wesentlichen Lebensinhalt gemacht und sich dem Willen zu helfen mit großem Einsatz hingegeben haben, wird man es oft nur schwer klar machen können, daß hier keinerlei Gegensätze zu finden sind, wenn man
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987
sich nur entschließen würde, die Sachlage etwas differenzierter und nüchterner zu betrachten.
Hierzu läßt sich nämlich die Ansicht vertreten, daß die humanen Ansprüche der Heilpädagogik dann am ehesten realisiert werden können, wenn man der menschlichen Fehlbarkeit das ihr zukommende Gewicht verschafft. Die mit der Idee der Autorität verbundene Vorstellung des persönlichen und sicheren Wissens, welches die alte Berufsethik charakterisierte, ist zugunsten der erkenntnistheoretischen Auffassung des objektiven und unsicheren Wissens aufzugeben(Popper 1984, 226). Dies hat zur Konsequenz, daß gewissermaßen im Vorfeld der Behindertenarbeit pädagogische Aussagen aller Art einer rationalen und kritischen Prüfung übergeben werden, um schwache Punkte zu eliminieren, bevor sie zur Wirkung kommen können. Man sieht, wie eng erkenntnistheoretische Auffassungen und ethische Prinzipien einer professionellen Heilpädagogik zusammenhängen. Vor dem Hintergrund dieser Berufsethik wäre es gerade gegenüber solchen engagierten Pädagogen, denen wir unter anderem auch zahlreiche Publikationen verdanken, ungerecht, wenn wir sie von einer vernünftigen Diskussion ausschlössen, indem wir ihre Thesen und heilpädagogischen Konzepte in Anbetracht ihrer Verdienste, ihres hohen Ansehens oder ihrer historischen Bedeutung von einer kritischen Untersuchung freistellen würden.
Eine moderne Heilpädagogik, die von der prinzipiellen Fehlbarkeit menschlicher Vernunft ausgeht, entzieht weder Mittel- noch Zielentscheidungen einer möglichen Kritik. Untaugliche Maßnahmen oder die Angabe solcher Verfahren, die es erlauben, alles Mögliche darunter zu verstehen, können auch dann keinen Kredit beanspruchen, wenn sie durch Normen und Ziele abgestützt werden, die allgemein anerkannt sind. Wenn im Extremfall also der gute Zweck die Mittel heiligen soll, diese also nicht einer eigenen(technologischen und moralischen!) Bewertung für nötig befunden werden, dann ist der Fall nicht mehr aus
us
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