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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Christoph Anstötz: Kritik und Fortschritt in der Heilpädagogik

zuschließen, daß Humanität zwar propa­giert, jedoch inhuman verfahren wird, so daß die verbal angestrebten und die tat­sächlich realisierten Wirkungen sich ent­gegenstehen. Die im Namen Gottes praktizierte Inquisition, die unter dem Zeichen Christi durchgeführten Kreuz­züge sind Beispiele, die jeder kennt. Das Extreme darin beleuchtet etwas Grund­sätzliches. Eine Heilpädagogik, die sich anspruchsvoll in ihren ethischen Zielen gibt, hat sich auch für eine Methodologie zu entscheiden, die ein moralisch ver­tretbares Verfahren anbietet, wie unser Realisierungswissen kontinuierlich ver­bessert werden kann; in diesem Falle al­so: für eine Methode der Auslese un­tauglicher Theorien und Technologien durch konsequente Kritik.

Schließlich sei noch ein letztes, etwas all­gemeines Argument hinzugefügt. Die­ses ist über den engeren Rahmen der Heilpädagogik hinaus relevant und wur­de von Popper immer wieder erwähnt, kürzlich noch in einem Gespräch mit Lorenz(Popper, Lorenz 1984); er bringt dabei einen Optimismus und eine Fort­schrittshoffnung zum Ausdruck, welche auch für die Heilpädagogik interessant sein dürften. Es handelt sich, auf eine Formel gebracht, um die Ansicht, daß der Mensch als einziges Lebewesen die Chance hat, Theorien, Ideen, Prinzipien und Überzeugungen an seiner Statt ster­ben zu lassen.Während... das tierische und das vorwissenschaftliche Wissen hauptsächlich dadurch wächst, daß die­jenigen, die untüchtige Hypothesen ha­ben, selbst ausgemerzt werden, läßt die wissenschaftliche Kritik oft unsere Theorien an unserer Stelle sterben; sie merzt dann unsere falschen Vorstellun­gen aus, ehe wir selbst ihretwegen ausge­merzt werden(Popper 1974, 289). Frei­lich läßt sich die Wissenschaft auch miß­brauchen. Aber bietet sie nicht in Ver­bindung mit einer wissenschaftlichen Einstellung, wie sie eingangs erwähnt wurde, die einzigartige Chance, unsere humanitären Vorstellungen zu verwirk­lichen, wie sie für alle Menschen von großer Bedeutung sind, insbesondere natürlich für solche, die in irgendeiner Weise behindert sind?

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Die Rolle der Kritik in der heilpädagogischen Berufsethik

Der Vorteil, den also die menschlichen Lebewesen gegenüber den tierischen besitzen, beruht im wesentlichen darauf, daß die menschliche Sprache, wie schon Bühler(1934) gezeigt hat(vgl. auch Pop­per 1974, 260 ff.) einige wichtige Funk­tionen mehr aufweist als die Tierspra­chen. In beiden Sprachen kommen die Ausdrucksfunktion sowie die Signal­funktion vor. Diese sind ihnen gemein­sam. In unserem Zusammenhang von Bedeutung aber sind die für das Denken und die Rationalität so wichtige Darstel­lungsfunktion und die von Popper her­vorgehobene Argumentationsfunktion, welche den Tieren fehlen.

So können die Menschen von der Mög­lichkeit Gebrauch machen, ihre Konflik­te, die sich schon aus den individuell un­terschiedlichen Bedürfnissen ergeben, über die Sprache zu regeln. Sie haben die Gelegenheit, selbst wenn ihre An­sichten, Interessen, Forderungen sehr verschieden sind- und das ist ja nicht nur in der Wissenschaftspraxis so, son­dern in der sozialen Praxis überhaupt-, darüber zu argumentieren und zwar oh­ne sich gegenseitig zu schädigen oder gar umzubringen:Man tötet keinen Men­schen, wenn man gewöhnt ist, zuerst auf seine Argumente zu hören(Popper 1980, 293). Was sich aus diesem viel­leicht etwas grausamen Beispiel lernen läßt, ist die strikte Trennung von Argu­ment und argumentierender Person, die der Rationalismus vorschlägt, und auch, daß Entwicklung und Fortschritt auf hu­manitäre Weise dadurch erreicht wird, daß man eben nicht Personen angreift, sondern die Auffassungen und Argu­mente der Personen. Wenn man diese Fortschrittsidee teilt, dann ist es nicht schwer einzusehen, daß eine Kritik, so scharf sie auch gedacht ist, keineswegs gegen die Person gerichtet bzw. zu rich­ten ist, sondern gegen eine von dieser Person zum Ausdruck gebrachten An­sicht, Denkhaltung oder auch Theorie; sie ist Ausdruck einerdarwinistischen Theorie des Erkenntnisfortschritts.

Die alten methodologischen und berufs­

ethischen Prinzipien der Heilpädagogik, die in der Phase des organisatorischen Aufbaus eine gewisse Berechtigung hat­ten, haben Person und Argument so eng miteinander verschweißt, daß die Kritik an einer Auffassung mit einer Attacke auf die Person gleichgesetzt werden mußte, von der sich mitunter sogar Gleichgesinnte betroffen fühlten. Per­sönliche Wertschätzung, Verpflichtung und Dankbarkeit schlossen von daher ei­ne öffentliche, kritische Auseinanderset­zung zwangsmäßig aus, wie eben auch eine derartige Berufsethik den Schluß erlaubte, daß Kritik an einer wissen­schaftlichen, ethischen oder sonstigen Auffassung automatisch eine Gering­schätzung der betreffenden Person be­deuten müsse: Objektive Fehler erhiel­ten die Bedeutung persönlicher Mängel. Jenes in anderen Bereichen durchaus wertzuschätzende Prinzip der Solidarität führt unter solchen Umständen zu Be­schränkungen, die im Sinne der Fort­schrittsidee nicht akzeptabel sein kön­nen. Gemeint ist jene fragwürdige Soli­darität, die auf Ansehen, Herkunft und Stand gerichtet ist:Wenn du einmal als Autorität anerkannt bist, dann wird dei­ne Autorität von deinen Kollegen be­schützt werden, und du mußt natürlich die Autorität deiner Kollegen beschüt­zen(Popper 1984, 227). Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, daß eine sol­che Ethik, die mit einer kritischen Ein­stellung nichts zu tun hat, sich in der Aufbauphase der Heilpädagogik beson­ders gut entwickeln konnte, wo es noch darauf ankam, daß alle an einem Strang ziehen, um die Geschicke der Behinder­ten aus den teilweise noch recht elenden Verhältnissen in bessere Bahnen zu len­ken.

Die Zeit, wo der Aufbau dominierte, und es wichtig war, alle Ressourcen zu nutzen, um schnellstmöglich auch die ersten speziell ausgebildeten Sonder­pädagogen in die Praxis zu schicken, ist endgültig vorbei. Und zu Ende gehen sollte nun auch die Zeit einer im großen und ganzen unbefriedigenden, mit ande­ren sozialwissenschaftlichen Disziplinen wohl kaum vergleichbaren Wissen­schafts-Methodologie und einer damit

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987