Christoph Anstötz: Kritik und Fortschritt in der Heilpädagogik
zusammenhängenden Berufsethik, die als Notlösungen wohl hingenommen werden mußten. Die Durchsicht der einschlägigen Literatur zeigt, daß interne Kritik, sofern sie auftaucht, meist nur in homöopathischer Verdünnung verabreicht wird. Wer Beispiele für eine wirkliche gelungene Praxis kritischer Auseinandersetzung sucht, dürfte sie zu Recht wohl am ehesten in Arbeiten solcher Philosophen erwarten für deren Position die Kritik eine maßgebliche Bedeutung hat. Bei der Sammelschrift„Kritik und Erkenntnisfortschritt”(Musgrave, Lakatos 1974) zum Beispiel, die den Titel des vorliegenden Beitrags angeregt hat, handelt es sich in der Tat um ein solches Beispiel. Der Band enthält Abhandlungen, in denen Lakatos, Kuhn, Watkins, Popper, Feyerabend und andere über die Philosophie der Wissenschaft kontrovers und fair argumentieren, verpflichtet den gemeinsamen Grundsätzen kritischer Rationalität.
Es wäre zu überlegen, ob die Heilpädagogik nicht langfristig als ein Gemeinschaftsunternehmen eingerichtet werden könnte, in dem Fehler zwar vermieden werden sollten, aber doch in einem Klima der Liberalität und Toleranz eingestanden werden dürfen, und in dem der Kritik als Organon des Fortschritts nun auch de facto grünes Licht gegeben wird. So könnte nach Abschluß der Aufbauphase dieser Disziplin gegenüber dem gegenwärtigen Wissensbestand ein Prozeß der natürlichen Auslese begin
Literatur:
nen, wobei nur die besten heilpädagogischen Anschauungen durchkommen und als Grundlage einer sachlich und normativ wohl fundierten Behindertenpädagogik dienen, die von uns allen ja im Interesse der behinderten Mitglieder unserer Gesellschaft gewünscht wird.
Schlußbemerkung
Die Ausführungen sollten einen Beitrag dazu leisten, in der Heilpädagogik vielleicht etwas mehr Verständnis für eine kritizistische Denkhaltung herbeizuführen und unnötigen Mißverständnissen bei künftigen Auseinandersetzungen vorzubeugen. Ein gewisses Dilemma bestand wohl darin, daß das, was Gegenstand der vorliegenden Diskussion sein sollte- nämlich Argumente für das Prinzip Kritik vorzulegen- stillschweigend bei der Darlegung selbst schon im Grunde vorausgesetzt wurde. Es wurde gewissermaßen mittels einer kritischen Diskussion(in der Auseinandersetzung mit bestimmten berufsethischen und methodologischen Prinzipien der Heilpädagogik in der Aufbauphase) für eine kritische Diskussion in der Heilpädagogik argumentiert. Es ist schwer zu sagen, wie ein solches Bemühen ankommen wird. Natürlich ist nicht ohne weiteres eine Annäherung unterschiedlicher Grundauffassungen zu erwarten, aber vielleicht doch ein etwas besseres Verständ
Albert, H.(1980). Traktat über kritische Vernunft. Tübingen: Mohr, 4. Aufl. Buchkremer, H.(1976). Ansatz einer Theorie der subsidiären Erziehung. Archiv für angewandte Sozialpädagogik 7, 59-72. Bühler, K.(1982). Sprachtheorie(orig.: 1934). Stuttgart, New York: Fischer. Lakatos, I.(1974). Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme. In I. Lakatos, A. Musgrave(Hg.), Kritik und
Erkenntnisfortschritt. Braunschweig: Vieweg.
Lakatos, I.; Musgrave, A.(Hg., 1974). Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig: Vieweg.
nis für solche Positionen, die in der Zeit des Aufbaus der Heilpädagogik keine bedeutende Rolle gespielt haben, in anderen Sozialwissenschaften jedoch seit langem eine feste Tradition besitzen. Wer einen Rationalismus vertritt, der von der Fehlbarkeit menschlicher Vernunft ausgeht und dem Prinzip der Kritik eine wichtige Funktion für den Fortschritt in allen Bereichen des menschlichen Lebens zumißt, muß daran interessiert sein, gerade in diesen Punkten für mehr Klarheit zu sorgen, die auf dem methodologischen und berufsethischen Hintergrund der traditionellen Heilpädagogik gute Chancen haben, besonders gründlich mißverstanden zu werden. Die freie, nicht-autoritäre Kritik läßt sich als wichtiges Mittel betrachten, die gegenwärtige Heilpädagogik zu verbessern, und zwar sowohl was die wissenschaftliche Erkenntnis, das ethischpädagogische Denken als auch die Behindertenarbeit selbst betrifft. Wenn dabei Argument und argumentierende Person stärker auseinandergehalten würden, bestünde die Chance, das in der Aufbauphase zustandegekommene Wissen in einer nun folgenden Konsolidierungsphase nach und nach von Irrtümern zu befreien, und zwar ohne daß die Verdienste der ersten Generation von Behindertenpädagogen in irgendeiner Weise geschmälert werden müßten und mit dem Erfolg einer qualifizierten pädagogischen Arbeit bei den behinderten Menschen.
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HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 2, 1987
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