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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Hans G. Eisert: Sozial-kognitive Intervention bei aggressiven Kindern Eine Übersicht

Psychopathologie.

Die Unterscheidung von verbaler(Be­schimpfungen, Drohungen, abwertende Äußerungen) und körperlicher(Schla­gen, Wegnehmen von Sachen usw.) Ag­gression sagt offenbar auch etwas über die Behandlunsbedürftigkeit aus. Kör­perliche Aggression mit der damit ver­bundenen Gefahr für andere bedarf dringend der Intervention. Ablehnung durch andere geht damit eher einher. Körperliche Angriffe werden nicht nur für gravierender erachtet. Sie sind auch schwieriger zu behandeln. Sie machen das Gros der Interventionstudien aus (Frankel& Simmons 1985).

Im Hinblick auf unmittelbare Determi­nanten lassen sich mit Zellmann(1979) Aggression und Feindseligkeit unter­scheiden. Aggression und Feindseligkeit haben dieser Analyse zufolge instru­mentalen Wert, weil sie zum einen schnell und billig zum Ziel führen: Ag­gressionen sind anreizmotiviert. Feind­seligkeit andererseits erweist sich als pro­bates Mittel, um Ärger loszuwerden: sie ist verärgerungsmotiviert. Das sollte für die Intervention wichtig sein, was jeweils im Vordergrund steht: Aggressivität oder Feindseligkeit. Bei vorwiegend ver­ärgerungsmotivierten, aggressiven Handlungen müßte die Intervention dem Kind vermitteln, besser mit Ver­drießlichkeit und Ärger umzugehen(vgl. Novaco 1979). Es hätte dabei auch zu ler­nen, zwischen berechtigtem Ärger und situationsunangemessener Wut und Aufregung zu unterscheiden.

Die Differenzierungunsozialisierte undsozialisierte Aggression(Hewitt& Jenkins 1946) betont den sozialen Rah­men, in dem das aggressive Verhalten erworben und praktiziert wird.Soziali­siert verweist darauf, daß aggressives Verhalten in einem sozialen(Sub-)Sy­stem den dort herrschenden Normen entspricht, durch dessen Mitglieder ver­stärkt wird, in Banden etwa, während unsozialisiert meint, daß das so für ag­gressiv erachtete Kindfür sich handelt, d.h. ohne dafür Verstärkung von einer Gruppe zu erfahren. Diese Unterschei­dung wird hinsichtlich Bedingungen, Korrelaten und Konsequenten aggressi­

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ven Verhaltens für bedeutsam erachtet (vgl. Quay, im Druck). Sehr vereinfacht: sozialisierte Aggression hat eine eher günstige Prognose, wohl weilSoziali­siert-Aggressive als Erwachsene gelernt haben, daß kleine Kriminalität sich nicht auszahlt. Sie verfügen zudem im Gegen­satz zu denUnsozialisiert-Aggressiven gemeinhin über hinlängliche kognitive Fertigkeiten, sozial-emotionale Kontak­te und Bedürfnisse danach, die einer spä­teren sozialen Integration förderlich sind (Quay, im Druck). Die sozial-kognitiven Interventionen, die wir in der Folge an­führen, zielen gemeinhin darauf ab, das Verhaltenunsozialisiert-aggressiver Kinder nachhaltig zu ändern.

Den Begriff der Aggression sehr weit ge­faßt besser ist wohl von auffälligem Sozialverhalten(antisocial conduct pro­blems) die Rede lassen sich offene (konfrontative: Wutanfälle, körperliche Attacken) und verdeckte(Stehlen, Be­trügen, Zündeln) antisoziale Verhaltens­weisen unterscheiden. Sie heben sich auch hinsichtlich ihrer Entstehung von­einander ab. Mit ihnen sind unterschied­liche Behandlungsimplikationen ver­bunden:versteckte antisoziale Hand­lungen lassen sich schon deshalb schlechter behandeln, weil sie seltener auftreten und das ist trivial beobach­ten lassen. Die empirischen Belege für diese Unterscheidung habe Loeber& Schmaling(1985) vorgelegt. Körperliche und verbale Aggression tre­ten eng verknüpft mit einer Reihe ande­rer mit Sanktionen belegten Verhaltens­weisen auf. Neben der mangelnden Folgsamkeit, dem Sich-nicht-auf-Re­geln-Einlassen, dem ständigen Vordrän­geln und Aufmerksamkeiterheischen, sind das, was als mangelnde Selbstkon­trolle gekennzeichnet wird: Wutanfälle, Irritierbarkeit bei geringstem Anlaß so­wie Verhaltensweisen, die die Beziehun­gen zu dem Nächsten erheblich bela­sten, weil sie als Unehrlichkeit, als Lügen erlebt werden. Wenn Eltern und Lehrer Kinder einzuschätzen haben und die Beurteilung einer multivariaten-statisti­schen Analyse unterzogen werden, scheint immer wieder eine Dimension auf, die als Störungen des Sozialverhal­

tens(conduct disorder) gekennzeich­net wird(Quay 1985; im Druck; Geisel et al. 1982). Sie spiegelt sich auch in den Einschlußkritereien des auf Konsensus zwischen Psychiatern gründenden psy­chatrischen Klassifikationssystems, wie dem Multiaxialen Klassifikationssystem von Rutter et al.(Remschmidt& Schmidt 1977) und dem amerikanischen DSM III(1980) wider. Es verweist zum einen darauf, daß Aggressivität häufig ein, wenn auch in der Auswirkung auf das Kind und seine Umgebung hervor­stechendes, Element eines umfassenden Verhaltensmusters ist, das es im Rah­men einer Intervention in den Blick­punkt zu rücken gilt. Zum anderen wird damit auch deutlich, daß Aggressivität eine psychopathologische Qualität zu­kommen kann bzw. auf eine Psychopa­thologie verweist: Kindliche Aggressivi­tät läßt sich auch danach unterscheiden, ob sie von psychopathologischem Aus­maß ist oder nicht. Daß Aggressivität auch adaptative Funktionen hat, zeigt sich, wenn Kleinkinder durch aggressive Akte anderen gegenüber verhindern, daß sie zu potentiellen Opfern der Attak­ken anderer werden(vgl. Frankel& Sim­mons 1985, 527). Nur: das Ausmaß kör­perlicher Aggressionen bei für unauffäl­lig erachteten Kindern nimmt mit zu­nehmendem Alter ab, und damit auch die im Vorschulalter zu beobachtende positive Korrelation von prosozialem Verhalten und aggressiven Handlungen. Einige Kinder heben sich hinsichtlich Art, Ausmaß aggressiven Verhaltens und situativem Kontext, in dem dieses Verhalten auftritt, von ihren Altersge­nossen ab.

2. Behandlungsbedürftigkeit und geringer Behandlungser­folg

Wie häufig sind Störungen des Sozial­verhaltens(im Sinne der psychiatrischen Klassifikation)? Prävalenzschätzungen schwanken erheblich, zwischen 4 und 7%(vgl. Quay, im Druck). In psychiatri­schen Kliniken machen Störungen des

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1986