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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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klinischen Eindruck: Immer wieder trifft man auf Kinder, die sich bei der Unter­suchung, angesichts von Leistungsanfor­derungen durchaus als kompetent erwei­sen. Und dennoch handeln sie gemein­hin eben nicht so, sondern oft impulsiv und aggressiv. Offenbar verfügt eine Rei­he von Kindern über eine bestimmte Fertigkeit, macht von ihr jedoch in der Situation keinen Gebrauch. Nicht eine dem Kind abgehende kognitive Fertig­keit wäre für das aggressive Verhalten verantwortlich, vielmehr der Verzicht darauf, sie in Situationen einzusetzen, WO sie zu einem sozial angemessenen Verhalten führen würden. Wenn hier ein Defizit vorliegt, so eins der Anwen­dung(Produktionsdefizit oderPerfor­manzdefizit, Flavell et al. 1966). Zu fra­gen wäre dann eher, welche situativen oder motivationalen Variablen dafür verantwortlich sind, daß ein Kind nicht so handelt, wie es eigentlich könnte.

Die Untersuchungsbefunde zu der Fra­ge, ob Kinder mit aggressivem Verhalten solche kognitiven Defizite wirklich auf­weisen, die die Programme zu beheben trachten, sind uneinheitlich, auch inner­halb eines Programms. So kann die Ar­beitsgruppe um Cowen(Gesten et al. 1982) den oft zitierten Befund von Spi­vack& Shure(1974) nicht replizieren, daß das Denken in Alternativen und Denken an Konsequenzen mit sozialer Anpassung verknüpft sei. Grundschüler der Anfangsklassen weisen vermehrt un­reifes, irrelevantes Zu-sich-selbst-Spre­chen auf, sind impulsiver. Sie verfügen jedoch über ein gutes Vokabular, kön­nen auch gelegentlich in handlungsan­leitender Weise zu sich selbst sprechen und sich so bremsen. Camp(1980) inter­pretiert dieses Ergebnis eher als ein Per­formanzdefizit, denn als grundlegende­res Defizit der Nichtverfügbarkeit verbal vermittelnder Fertigkeiten. Auf Prozeß­aspekte bei der Frage nach dem Zusam­menhang sozialer Auffälligkeit und Pro­blemlösungsstrategien verweisen Ri­chard& Dodge(1982). Aufgefordert, al­ternative Lösungen für Problemsituatio­nen zu generieren, erweisen sich isolier­te wie aggressive Zweit- bis Fünftklässler durchaus in der Lage, einen ersten, ange­

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Hans G. Eisert: Sozial-kognitive Intervention bei aggressiven Kindern Eine Übersicht

messenen Lösungsvorschlag zu ma­chen. Ob ihre Lösung der Situation an­gemessen ist, können sie auch hinläng­lich einschätzen. Wenn es jedoch darum geht, weitere Lösungsvorschläge zu ent­wickleln, haben sie, wie auch von anderen Autoren(vgl. Spivack& Shure 1982) beobachtet, ihre Schwierigkeiten. Sie verfallen dann in ihre charakteristi­schen, eben aggressiven oder ineffekti­ven Verhaltensmuster. Wenn eine initia­le Lösung nicht hinlangt, alternative Lö­sungen gefordert werden, treten die Ver­haltensprobleme auf.

Wenn aggressive Kinder in bestimmten Situationen nicht so handeln, wie sie es eigentlich könnten, so mag das den Blick unter Umständen auch auf einen Lernprozeß lenken, allemal darauf, daß es nicht angemessen wäre, identifi­zierte oder erst einmal nur vermutete Defizite losgelöst von einer individuel­len Lerngeschichte und den sozialen Kontexten, in denen sie handlungsrele­vant werden, zu sehen. Darauf verwei­sen auch nachdrücklich die experimen­tellen Untersuchungen zur Informa­tionsverarbeitung in sozialen Situatio­nen, wie sie vor allem Dodge und Mitar­beiter(vgl. Dodge 1985) angestellt ha­ben. Sie heben weniger den Mangel an sozialkognitiven Fertigkeiten hervor als vielmehr spezifische Fehler in der Infor­mationsverarbeitung. Ausgehend von dem Befund, daß ein hoher Anteil ag­gressiven Verhaltens, das in Gruppen Gleichaltriger zu beobachten ist, nach Provokationen(durch KGileichaltrige) auftritt v. a. nach vorhersagbarer Pro­vokation, belegt die Arbeitsgruppe um Dodge, daß es die Wahrnehmung der Absicht, nicht das eigentlich vom glei­chaltrigen Gegenüber Intendierte ist, das darüber entscheidet, ob aggressiv reagiert wird. Die dem Anderen zuge­schriebene feindselige Absicht geht dem aggressiven Verhalten vorher, sorgt dafür, daß in der Zukunft gleichermaßen und vermehrt gehandelt wird. Wie es zu diesem Attributions-Bias kommt und welche informationsverarbeitenden Pro­zesse dabei vor allem involviert sind, da­zu liegen eine Reihe von empirischen Untersuchungen(s. Dodge 1985). Zu­

sammenfassend und in einer Modellvor­stellung gefaßt: Aggressive Jungen er­weisen sich als defizient im Hinblick auf die Wahrnehmung und Kodierung von sozialen Zeichen und Hinweisen. Dies hat im zweiten Schritt einen Attribu­tions-Bias zur folge: Gleichaltrigen wird zugeschrieben, förmlich von ihnen er­wartet, daß sie einem feindselig geson­nen sind. Das führt wiederum zu unan­gemessenen, vorwiegend aggressiven Verhaltensweisen in problematischen Situationen, vor allem wenn Provokatio­nen erlebt werden. Des aggressiven Ver­haltens wegen wird der Junge von den Kameraden abgelehnt. Zurückweisung wiederum perpetuiert die defiziente In­formationsverarbeitung, verstärkt das aggressive Verhalten und führt somit zu vermehrter Ablehnung(Dodge 1985). Dabei muß man wissen, daß Ablehung durch Gleichaltrige ein Prädiktor für spä­tere soziale Auffälligkeit ist(vgl. auch Überlegungen in Petermann& Peter­mann, 1984).

Eine Gruppe, die in besonderem Maße sowohl durch ein Abweichen der sozia­len Wahrnehmung und Informations­verarbeitung wie auch Ablehnung durch andere gekennzeichnet ist, sind jene Kinder, die sowohl aggressiv als auch hy­peraktiv sind(Milich& Dodge, 1984). (Klinisch) hyperaktiv-aggressive Kinder haben ein hohes Risiko späterer psychia­trischer und sozialer Auffälligkeit(vgl. Eisert, im Druck). Indem es auf die rezi­proken Beziehungen von sozialen Fehl­wahrnehmungen und kognitiven Defizi­ten, Verhaltensauffälligkeiten und Zu­rückweisung durch andere verweist, ist ein solches hier vereinfacht referiertes Modell wie das von Dodge(1985) geeig­net, der Gefahr zu begegnen, die Pro­bleme des Kindes wiederum gleichsam in dessen Kopf zu lokalisieren und dabei das soziale Bedingungsgefüge auszu­blenden.

Es wird gelegentlich angenommen, daß spezifische verbale Defizite des Etiket­tierens und des sich selbst anleitenden Sprechens mit spezifischen Vehaltens­auffälligkeiten einhergehen(Richman& Lindgren 1981). Es steht dahin, ob ein solcher enger Zusamenhang von Defizit

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1986