Situationsbezogene Aggressionserfassung— ein neuer Weg der Verhaltensgestörten-Diagnostik?
Von Franz Petermann
Der Artikel geht auf ein neues Verfahren zur situationsbezogenen Erfassung aggressiven Verhaltens bei Kindern der Altersgruppe von 9 bis 14 Jahren ein. Die Konzeption des Verfahrens wird vorgestellt, und die Anwendung des Tests im Rahmen der Indikationsstellung und als therapeutisches Arbeitsmaterial erläutert. Abschließend wird kurz auf die empirische Basis des EAS eingegangen. Der EAS(Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen) zeigt, in welcher Form sozialpsychologische Befunde als Basis einer konkreten Verhaltensdiagnostik herangezogen werden können.
The paper discusses a new approach evaluating aggressive behavior in childhood(age 9 to 14). The concept and the theoretical assumptions are demonstrated. The new instrument evaluates aggressive behavior, and children excerise new behavior with the help of the diagnostic materials. The EAS illustrates the application of social psychological results as framework for the development of concrete behavioral diagnosis.
0. Einleitung
Aggressives Verhalten von Kindern ist erworben und hängt von einer Vielzahl von Bedingungen ab, die auch durch die soziale Umgebung mitbestimmt sind. Für die Erklärung und Feststellung von Aggression bedeutet dies, daß man nicht von der Aggression sprechen kann, sondern von aggressiven Verhaltensweisen, die sich unter bestimmten Bedingungen herausbilden. Aggression kann somit nicht durch einen Kennwert in einem Persönlichkeitsfragebogen abgebildet werden, sondern ist als differenziertes Reaktionsprofil darstellbar, das die situativen Bedingungen des Handelns berücksichtigt. Solche Bedingungen liegen bei Kindern in der Schule, dem Elternhaus und dem weiten Bereich des Freizeitverhaltens außerhalb des Elternhauses(vgl. Petermann& Petermann, 1980). Wir stellen einen Test vor, der diese Differenzierungsleistung potentiell erbringen kann. Zur Verdeutlichung des vorgeschlagenen Zuganges zur Verhaltensdiagnostik soll zunächst auf den Situa
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tionsbegriff in der Psychodiagnostik eingegangen werden.
1. Zum Situationsbegriff in der Psychodiagnostik
Obwohl man vom Literaturstand aus betrachtet den Eindruck gewinnt, daß der Situationismus zugunsten einer interaktionistischen Sicht in den Hintergrund geraten ist, kann man den Nutzen situationsbezogener Verfahren noch gar nicht absehen. Für ein solches Urteil liegt noch keine ausreichende Erfahrungsbasis vor. Das Verständnis und die Merkmale von„Situation” sind zudem noch nicht so klar gefaßt, wie man sich das wünschen würde. Das erkennbare Ziel der situationistischen Betrachtungsweise ist, das_Bedingungsgefüge menschlichen Reagierens durch die Benennung und Erforschung von Teilkomponenten aufzuschlüsseln. Kennt man das Bedingungsgefüge— so im Umkehrschluß— kann man Situationen
konstruieren und Reaktionsweisen Ssy
stematisch erfassen.
Der Situationsbegriff wird in der Psycho
diagnostik in mehrfacher Weise ge
braucht:
(a) Die diagnostische Situation(vgl. Spitznagel, 1982); hier versucht man, die Komponenten des Prozesses der Diagnosestellung zu zerlegen.
(b) Situation als ökologisches Bezugssystem, das in einer Diagnosestellung zu berücksichtigen ist und sich der Umweltpsychologie verpflichtet fühlt(vgl. Saup, 1983).
(c) Situationsabbildung als Konstruktionsprinzip von Items, die aus der behavioralen(eher verhaltenstherapeutischen) Diagnostik entspringt (vgl. Petermann& Petermann, 1980).
Im nachfolgenden wird es darum gehen
aufzuzeigen, wie durch die Verbesse
rung des Konstruktionsprinzips von
Items(c) situationsbezogenes Denken
seinen Eingang in die Psychodiagnostik
findet.
Bei dem Wortgebrauch„Situation” kann
man über die verschiedenen Sichtwei
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1986