Franz Petermann: Situationsbezogene Aggressionserfassung— ein neuer Weg der Verhaltensgestörten-Diagnostik?
sen hinweg zumindest sechs Merkmale
einer Situation erkennen:
— Situation läßt sich über ihre zeitliche Erstreckung(Dauer) bestimmen;
— Situationen können Versuchspersonen unterschiedlich vertraut sein;
— aus der Sicht der Beteiligten können Situationen unterschiedlich gut vorstrukturiert sein, d.h. bestimmte Handlungsweisen festlegen;
— durch die Anzahl der Handelnden, das Ausmaß an Rollendifferenzierung, die Kommunikationsebenen und die nicht-sozialen Objekte(physikalische Settings wie Ort, Gegenstände etc.) können Situationen unterschiedlich komplex sein;
— die Handlungsbezüge und die Vorstrukturierung tragen dazu bei, daß Situationen mehr oder minder eindeutig sind und
— generell können Situationen durch das Ausmaß an äußeren, kontrollierenden Faktoren für die Versuchsperson künstlich oder natürlich ausfallen.
Wir gehen wie Moskowitz(1982) nicht
davon aus, daß durch die stärkere Be
rücksichtigung von Situationsfaktoren die Annahme stabiler Persönlichkeitsfaktoren irreal ist. Situationismus und
Ich habe eine tolle Idee, wie ich meinen Mitschülern einen Streich spielen kann. In der Pause schleiche ich mich ungesehen in das Klassenzimmer und vertausche sämtliche Schultaschen, Hefte
und Stifte der Mitschüler.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1986
die Suche nach dem Stabilen im menschlichen Reagieren sind dann vereinbar, wenn man in einer situationsbezogenen Diagnostik die Tendenz hervorhebt, Kontextbedingungen menschlichen Reagierens zu spezifizieren.
2. Möglichkeiten einer situationsbezogenen Verhaltensdiagnostik
Die bisherigen Zugangswege zur Verhaltensdiagnostik sind entweder durch ihren Erhebungsaufwand(vgl. Verhaltensbeobachtung; Verhaltensanalyse i. S. von Schulte(1974)) oder ihren vagen Charakter(vgl. projektive Verfahren, wie der Rosenzweig oder sehr globale Persönlichkeitstests) gekennzeichnet. Eine weitgehend standardisierte Einschätzung liegt lediglich bei Verhaltenslisten(wie die Marburger Verhaltensliste) vor, die allerdings über Elternratings die Beurteilung des Kindes durchführt. Einen anderen Weg beschreitet der EAS (Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen), der über die direkte Befragung der Kinder(9 bis 14 Jahre) aggressives Verhalten erfas
angerichtet habe, melde ich mich natürlich nicht. O Der Lehrer fragt, wer den Unsinn gemacht habe; ich sage, daß es Sabine gewesen sei;
ich bin auf sie sauer, weil sie mich beim Lehrer verpetzt hat.
O Auf die Frage des Lehrers, wer die Sachen vertauscht habe, melde ich mich und erkläre, daß es nur ein Scherz gewesen sei.
sen will. Selbstverständlich enthält auch dieser Zugang Probleme, wie die Tendenz von seiten der Kinder, bei aggressiven Konflikten sozial erwünscht zu antworten.
3. Die Konzeption des EAS
Ein situationsbezogener Ansatz zur Messung von Aggression läßt sich aus der Forschung zu dieser Thematik ableiten, da die Literaturberichte(Mummendey, 1983) und empirischen Arbeiten (z.B. Olweus, 1980), die hohe Kontextund Situationsabhängigkeit aggressiven Verhaltens nahelegen. Aggression soll auf dem Hintergrund des verhaltenstherapeutischen Anwendungsbereiches der EAS als offen erkennbares Verhalten definiert werden. Aggression wird eine Schädigungstendenz unterstellt, die entweder die eigene, eine fremde Person oder einen Gegenstand zum Ziel hat. Die Schädigung der eigenen und einer fremden Person ist dabei nicht immer deutlich zu trennen. So wird der andere durch die aggressive Interaktion in seiner Entfaltung gehindert; gleichzeitig nimmt man sich selbst auch die Möglichkeit einer nichtaggressiven Kontaktknüpfung und-pflege. Durch diese Tatsache ist Kommunikation eingeschränkt und selbstschädigend. Diese Überlegung weist das Ausmaß der Selbstschädigung als zentrale Bestimmungsgröße einer Aggressionsdefinition aus und ermöglicht hierdurch die Legitimation eines therapeutischen Vorgehens.
Der EAS geht von tätigkeitsorientierten, fiktiven Handlungen und entsprechenden Bildvorlagen aus(vgl. Abb. 1). In den konkret geschilderten Handlungen, die Alltagssituationen aggressiven Verhaltens beinhalten, soll Realität nachgebildet werden. Diese Situationsbeschreibungen haben zum Ziel, einem Kind das
Abb. 1: Beispielitem aus dem EAS-M(Mädchenversion).
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