Jürgen Drescher: Elternberatung bei aggressivem Kindverhalten
ben für die einzelnen Familienmitglieder. In unserem Fallbeispiel sah der Vater sich zu überharten(aggressionsauslösenden) Strafen genötigt, während die Mutter durch überbeschützendes Verhalten ihren Sohn immer wieder vor den negativen Folgen seines aggressiven Verhaltens bewahrte. Das gestörte Verhalten eines Familienmitgliedes dient auch der Selbstwertstabilisierung der übrigen Angehörigen, die ihr eigenes Verhalten mit dem des Symptomträgers vergleichen, wobei die eigene Person stets in einem günstigen Licht erscheint. Das Erklärungsmodell(Abb. 1) bedarf insofern einer Ergänzung, als es den Einfluß außerfamiliärer Faktoren unberücksichtigt läßt. Patterson& Hautzinger (1983) weisen darauf hin, daß eine Vielzahl externer Faktoren(z. B. Arbeitslosigkeit des Vaters) sich ungünstig auf familiäre Interaktionen auswirken können, indem die Schwelle für Irritierbarkeit und negative Reaktionen sinkt. Als Langzeitfolgen nennen Patterson(1982) und Patterson& Hautzinger(1983) eine Ausdehnung der Konflikte in ihrer Intensität(Eskalation) und zeitlichen Dauer(verlängerte Reaktionen). Peterander(1985) referiert eine Reihe neuerer Forschungsergebnisse, die den Einfluß folgender Faktoren auf die Eltern-Kind-Interaktion belegen:
— Psychische Befindlichkeit der Eltern, — Ehekonflikte und
— soziale Außenkontakte der Eltern. Daraus ergibt sich die Schlußfolgerung, daß auch externe, d.h. nicht direkt der Eltern-Kind-Interaktion zuzurechnende Gegebenheiten zum Inhalt diagnostischer und therapeutischer Aktivitäten zur Behebung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten im Familienkontext gemacht werden sollten.
3. Diagnostische Möglichkeiten
Entsprechend dem hier dargestellten Ansatz einer verhaltensmodifikatorisch orientierten Arbeit mit Eltern und Kin
dern werden im folgenden diagnostische Verfahren und Strategien erläutert, die der verhaltens- und situationsorientierten Diagnostik zuzurechnen sind.
3.1. Diagnostische Erfassung aggressiven Kindverhaltens
Mit dem„Beobachtungsbogen für aggressives Verhalten”(BAV) von Petermann& Petermann(1984) liegt ein Beobachtungsschema vor, das zwischen verschiedenen Formen aggressiven Verhaltens(8 Items), Formen sozial kompetenten Verhaltens(4 Kategorien) sowie aggressivem Verhalten von Interaktionspartnern(2 Items) differenziert. Der„Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen”(EAS) von Petermann& Petermann(1980) ist ein Fragebogen, in dem bildlich und textlich Situationen dargestellt werden, für die das Kind aus 3 vorgegebenen Reaktionsmöglichkeiten diejenige auswählen soll, die seinem realen Verhalten in derartigen Situationen entspricht.
3.2. Diagnostik im Rahmen der Elternarbeit;
Die wichtigste Quelle für Informationen
über das Kind und die familiäre Situa
tion ist das mit den Eltern im Erstkon
takt durchgeführte Interview. Peter
mann& Petermann(1984) haben einen
Eltern-Explorationsbogen ausgearbei
tet, der
— Daten zur Person des Kindes
— Informationen über soziale Beziehungen des Kindes
— Vorgeschichte sowie aktuelle auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen des Problemverhaltens
— therapiespezifische Informationen (z.B. Fähigkeit des Kindes zur Selbstkontrolle; bisherige Versuche, das Problemverhalten zu modifizieren; Erwartungen der Eltern an die Therapie)
erhebt. Die im Erstkontakt gesammel
ten Informationen dienen der Erstellung
einer Verhaltensanalyse. In der Verhal
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1986
tensanalyse wird die funktionale Bedeutung des kindlichen Problemverhaltens für das familiäre Interaktionsgeschehen herausgearbeitet. Auch die übrigen, in Abschnitt 2 skizzierten Ebenen(Vorbedingungen, Rollenausgestaltung, Interaktionsverhalten) können mit Hilfe einer Verhaltensanalyse aufgedeckt werden.
Der Erstkontakt mit der Familie sollte idealerweise im Elternhaus stattfinden, da der Therapeut hier eine Vielzahl wichtiger Informationen zur Lebenssituation der Familie(Räumliche Gegebenheiten, Freizeitmöglichkeiten usw.) sammeln kann, die gemeinsam mit den erfragten Tatsachen und den Ergebnissen der Verhaltensbeobachtung ein realistisches Bild ergeben. Außerdem ist zu erwarten, daß alle Beteiligten in ihrem vertrauten Milieu auch eher gewohnte Verhaltensweisen zeigen und familiäre Konflikte somit schnell offenkundig werden.
Die systematische Verhaltensbeobachtung der Eltern-, Eltern-Kind- und Geschwister-Interaktion liefert weitere therapierelevante Informationen. Um Vollständigkeit und Validität der Beobachtungsdaten zu gewährleisten, sollten immer zwei Therapeuten am Hausbesuch teilnehmen. Wichtige Kategorien zur Analyse des Interaktionsverhalten sind nach Innerhofer& Peterander(1984) die Steuerung(Beeinflussung) des Interaktionspartners, Blockade, Eingehen, Feedback, motivierendes Abwarten. Eine vollständige Codierung und Auswertung von Interaktionssequenzen ist jedoch mit erheblichem Aufwand verbunden(vgl. z.B. Peterander, 1981). Der Praktiker wird sich daher darauf beschränken müssen, im Anschluß an das Familiengespräch die wichtigsten Kategorien des Interaktionsverhaltens mit Hilfe einer Schätzskala zu beurteilen. Die Einschätzung des aggressiven Kindverhaltens durch die Eltern kann auch mit Hilfe des EAS(s.o.) durchgeführt werden. Die Anweisung lautet dann: „Kreuzen Sie bitte die Reaktion an, die Ihr Kind wahrscheinlich in den dargestellten Situationen zeigen würde.” Dieser Einsatz des EAS erscheint uns insbe
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