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Ulrike Petermann/Birgit Röttgen: Sozial unsichere Kinder— Konzeption und Evaluation eines Behandlungspaketes
takt, will sich von bestimmten Personen (z.B. der Mutter) nicht trennen, das Haus bzw. die elterliche Wohnung nicht verlassen u.ä.
Diese Kategorien lassen sich theoretisch begründen, wie Arbeiten von Argyle (1972), Bornstein et al.(1977) und Rutter & O’Brien(1980) belegen. Sie liegen einem Beobachtungsbogen für sozial unsicheres Verhalten zugrunde; wir kommen im empirischen Teil des Aufsatzes darauf zurück.
2. Ursachen sozial unsicheren Verhaltens bei Kindern
Um die Entstehungsbedingungen von sozial unsicherem Verhalten bei Kindern abzuklären, wurden klinisch-psychologische Einzelfalluntersuchungen durchgeführt. Dabei wurden Informationen aus standardisierten Elterninterviews, der Befragung der Kinder und anhand systematischer Verhaltensbeobachtungen der Eltern-Kind-Interaktion gewonnen. Die untersuchten Kinder konnten zwei Gruppen zugeteilt werden, die sich hinsichtlich ihrer Sozialisationsbedingungen erheblich unterschieden(vgl. U. Petermann, 1982).
Kindtyp 1: Die Sonntagskinder wurden sehr behütet und verwöhnt. Unabhängig davon, was und wie sie etwas taten, es wurde von Erwachsenen immer positiv hervorgehoben. Probleme und Entscheidungen wurden diesen Kindern abgenommen. Die Kinder brauchten kein begonnenes Spiel zu Ende führen, Spielsachen nicht aufräumen oder sonstige Aufgaben im Familienverband erledigen. Auf Wünsche und Bedürfnisse wurde weitestgehend Rücksicht genommen. Konsequent ein Ziel zu verfolgen und sich dafür einzusetzen, kannten die Kinder kaum. Sinnvolle und begründete Ge- bzw. Verbote als Grenzsetzung und Orientierung für die Kinder gab es nicht oder wurden nicht konsequent durchgehalten. Die Kinder wiesen eine besonders intensive Mutterbindung auf, und fast alle Kommunikation der Kinder lief über die Mutter. Die Kinder lebten in ei
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ner„rosaroten” Welt, in der sie positive Vestärkung unabhängig von ihrem Verhalten und damit also unkontrollierbar erhielten. Spätestens in der Schule, wo Anforderungen an sie gestellt wurden und Konsequenzen von ihrem Verhalten abhingen, traten Schwierigkeiten auf. Die Schwierigkeiten äußerten sich in ausgeprägtem Verweigerungsverhalten der Kinder hinsichtlich Verpflichtungen und sozialer Aktivitäten. Wie sich zeigt, liegen wichtige Übereinstimmungen mit den theoretischen Annahmen der erlernten Hilflosigkeit vor. Sie beziehen sich auf wiederholte Unkontrollierbarkeitsbedingungen, die zu der Erwartung führen,„egal was ich mache, es kommt immer etwas Positives für mich dabei heraus”. Werden diese Kinder mit ihrem ersten Mißerfolg konfrontiert, dann können sie damit nicht konstruktiv umgehen, sondern resignieren, gehen dem Problem aus dem Weg oder zeigen — wenn möglich— Verweigerungsverhalten. Sie sind unsicher, gerade auch im Sozialbereich. Seligman(1983) nennt derart Ssozialisierte hilflose Kinder „Sonntagskinder”.
Kindtyp 2: Deprivierte Kinder sind durch Vernachlässigung und inkonsequentes Erziehungsverhalten geprägt. Aufmerk
samkeit, Anerkennung und Lob wurden für die Kinder ebenso unberechenbar gezeigt wie Tadel oder Nichtbeachtung. Die Zuwendung, die diese Kinder erfuhren, erfolgte oft sporadisch nach Zeit und Stimmung der Eltern, da diese durch Beruf oder sonstige ungünstige Bedingungen oft stark belastet waren. Für die Kinder war kaum ein Zusammenhang zwischen ihrem und dem Verhalten der Eltern erkennbar, und damit wurden Ereignisse und Konsequenzen für sie nicht kalkulierbar, ebenso nicht kontrollierbar. Bei diesen Kindern trat jedoch noch eine zweite bedeutende Sozialisationsbedingung hinzu. Sie erfuhren im Laufe ihrer Entwicklung mindestens ein unvorhersagbares traumatisches Ereignis, wie z. B. kurz- oder langfristige Trennung von der Mutter oder einer erziehenden Großmutter; Scheidung der(leiblichen) Eltern und neue Heirat der Mutter(wobei der„neue Vater” als eindringender Störenfried, der
Abb. 1: Sozialisationsbedingungen und Formen sozial unsicheren Verhaltens(stark vereinfacht, aus Petermann, 1986, S. 64 f.).
Sozialisationsbedingungen sozial unsicherer Kinder
Kindtyp: Sonntagskind
Verwöhnendes, überbehütendes und inkonsequentes Erziehungsverhalten
Beobachtbares Verhalten: Anforderungen sozialer und sonstiger Art verweigern; Sozialkontakt verweigern; immer „Nein” sagen(unangemessene Selbstbehauptung); ausdauernde Beschäftigung alleine mit ausgeprägter Selbstverbalisation; unsicher umherschauen; verlegen lächeln; nervöse Zappelbewegungen.
Kindtyp: Depriviertes Kind.
Vernachlässigendes, inkonsequentes
Erziehungsverhalten und Erfahren von nicht vorhersagbaren, emotional unangenehmen Ereignissen
Beobachtbares Verhalten: Kritiklose/ meinungslose Anpassung an Anforderungen; kein Sozialkontakt; nicht „Nein” sagen können(keine Selbstbehauptung); nichts erzählen; nicht in allen Fällen ausdauernde Beschäftigung alleine; kein Blickkontakt; unsicheres Umherschauen; verlegen lächeln; Zappelbewegungen.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1986