Ulrike Petermann/Birgit Röttgen: Sozial unsichere Kinder— Konzeption und Evaluation eines Behandlungspaketes
die Mutter wegnimmt, wahrgenommen wurde); späte Geburt eines Geschwisters oder Aufnahme eines Pflegekindes; Bevorzugung eines anderen Geschwisters; Erkennen, daß der Vater nicht der leibliche, sondern Adoptivvater ist.
Diese Kinder sind interessen- und scheinbar energielos. Sie verharren eher in Passivität, scheuen Sozialkontakte und sind mißtrauisch. Bei diesen Kindern dürfte vor allem die Bedingung der unvorhersagbaren, emotional unangenehmen Ereignisse zu Angstgefühlen geführt haben. Da sich diese Angst vor allem auf den Sozialbereich und auf die Erfahrung des„undankbaren Geschäfts”, Kontakte zu schließen, bezieht, wird diese Angst als soziale Angst bezeichnet. Sie dürfte eine wesentliche, dem sozial unsicheren Verhalten dieser Kinder zugrunde liegende Motivation darstellen. In Anlehnung an Seligman werden diese Kinder„deprivierte Kinder” genannt.
Die abschließende Abbildung gibt summarisch die Sozialisationsbedingungen und Formen sozial unsicheren Verhaltens an(s. S. 52).
3. Einzelfallanalytisches Vorgehen
3.1. Grundannahmen
Wie einleitend erwähnt, hat unsere Bonner Arbeitsgruppe im Umgang mit Verhaltensstörung ein Vorgehen entwickelt, das aus einer Kombination von Kindertraining und Elternberatung besteht. Es liegt damit ein Behandlungspaket vor, das nur in seiner summarischen Wirkung auf Effektivität geprüft werden kann. Da es sich um nichttrennbare Vorgehensweisen handelt, ist dieses Vorgehen unter methodischen Überlegungen im Rahmen der Einzelfallforschung statthaft(vgl. Bortz, 1984). Ein hohes Maß an Präzision ist jedoch bei der einzelfallanalytischen Verlaufskontrolle erforderlich. Für jeden Einzelfall sind Annahmen über Lernphasen bzw. Thera
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1986
piephasen und deren Auswirkungen vorab zu formulieren(vgl. zum Vorgehen F. Petermann, 1982). Die Präzision solcher Vorhersagen hängt entscheidend von der Binnenstrukturierung eines Behandlungspaketes ab, d.h. der Differenziertheit der einzelnen anzusteuernden Ziele, die ein Kind in einer Trainingsstunde bzw. in einem Trainingsabschnitt erreichen soll. Hierbei läßt sich grob das Einzel- und das Gruppentraining mit dem Kind bzw. einer Gruppe von Kindern unterscheiden(zu den Zielen und dem praktischen Vorgehen vergleiche die Ausführungen unter Abschnitt 4). Das Kindertraining beginnt mit einem kognitiv orientierten Einzeltraining und wird in ein Verhaltenstraining in einer Kindergruppe überführt. Die Ziele der Elternarbeit sind darauf abgestimmt.
3.2. Globale Verlaufsannahmen
Die genannten und noch detaillierter zu beschreibenden Phasen des Kindertrainings legen aufgrund des jeweils zugrundegelegten lerntheoretischen Vorgehens unterschiedliche Effekte nahe. So wird das Einzeltraining nach einer Sensibilisierung des Kindes für seine Verhaltensprobleme schnelle, jedoch nicht stabile Effekte zur Folge haben, da es vielfältige empirische Belege für diese Effekttypen der kognitiven Verhaltensmodifikation gibt; erst ein gezieltes, verhalteneinübendes Vorgehen im Gruppentraining führt zu stabilen Effekten(vgl. zusammenfassend Urbain& Kendall,
1980). Erst in dieser Phase wird das Kind
neues, angemessenes Sozialverhalten(=
Zielverhalten) aufbauen können, da
grundlegende Verhaltensdefizite, wie
mangelnder Blickkontakt, bereits im
Einzeltraining behoben wurden. Als glo
bale Verlaufshypothesen lassen sich des
halb die folgenden drei Annahmen formulieren:
(1) Im Einzeltraining wird nach einer Phase der Problemsensibilisierung das Kind schnell Verhaltensdefizite erkennen und durch die vermittelte
Selbstkontrolle ausgleichen können; diese Effekte bleiben jedoch nicht erhalten.
(2) Das Zielverhalten kann erst im Gruppentraining eingeübt werden, nachdem grundlegende Fertigkeiten beim Kind im Einzeltraining aufgebaut worden sind. Durch alltagsnahe Verhaltensübungen im Gruppentraining kommt es zu stabilen Verhaltensänderungen.
(3) Die Elternarbeit hat einen unterstützenden, kontinuierlich wirkenden Effekt, der entscheidende Bedeutung für die langfristige Verhaltensänderungen des Kindes besitzt.
3.3. Ausblendungsdesign
Zum Nachweis der Effektivität des Behandlungspaketes müssen die Wirkungen der beiden Trainingsphasen(Einzelvs. Gruppentraining) separiert werden; des weiteren gilt es, die Kontinuität des Trainingsverlaufes zu belegen. Diese beiden Absichten lassen sich schwer in einem Versuchsplan prüfen, da eine Überprüfung der Teile des Trainings ein Untersuchungsdesign voraussetzt, das durch eine längere Nichttrainingsphase unterbrochen wird. Bei einer Prüfung der Kontinuität des Trainingsverlaufes wäre die unmittelbare Hintereinanderschaltung der Behandlungsteile erforderlich, um z.B. einen hierarchisch aufgebauten Trainingserfolg festzustellen. Eine Lösung dieses Problems, das sich aus der Kluft zwischen praktischen Handlungsmöglichkeiten, und den methodischen Ansprüchen an eine exakte Versuchsplanung ergibt, entwickelte Leitenberg(s. F. Petermann, 1982). Leitenberg betonte, daß beim Vorliegen einer Trainingshierarchie ein sogenanntes „Ausblendungsdesign” das angemessene Vorgehen zur Effektivitätsprüfung darstellt. Unter einem Ausblendungsdesign versteht man einen Versuchsplan, der nach Schema B— A—B oder B— A— C aufgebaut ist. Hierbei ist A die Baseline-Phase, d.h. der Bereich des Versuches, in dem keine Behandlung erfolgt. Die B-Phase ist eine Behandlungsphase,
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