Ulrike Petermann/Birgit Röttgen: Sozial unsichere Kinder— Konzeption und Evaluation eines Behandlungspaketes
die sich im Normalfall auf einen vorgeordneten, meist weniger komplexen Therapieabschnitt bezieht(hier: Einzeltraining); die C-Phase gibt einen komplexeren, meist zeitlich nachgeordneten Trainingsabschnitt an(hier: Gruppentraining).
In dem vorliegenden Fall der strengen Trennung zwischen Einzel- und Gruppentraining bietet sich der B-A-C-Plan als Umsetzung eines Ausblendungsplanes an. Dieser Versuchsplan bezieht sich nur auf die Effektanalyse der Kindersitzungen; die Effekte der Elternarbeit können in diesem Design nicht genau berücksichtigt werden. In diesem Falle muß unterstellt werden, daß die Elternarbeit eine das Training unterstützende Funktion besitzt. Eine Spezifikation dieser Annahme ist innerhalb des Ausblendungsdesigns nicht möglich. Für die Hypothesenformulierung bedeutet dies, daß vorwiegend eine Begründung der Trainingseffekte aus den Interventionsschritten mit den Kindern erfolgt.
3.4. Stichprobengewinnung
Wir legten den Mitarbeitern des Schulpsychologischen Dienstes einer Stadt im Großraum Köln ein halbes Jahr vor Beginn der Maßnahme den Beobachtungsbogen für sozial unsicheres Verhalten (BSU; Petermann, 1986, S. 28f.) vor, anhand dessen insgesamt 11 Kinder mit entsprechenden problematischen Verhaltensweisen ausgewählt wurden. Von diesen 11 Kindern waren 6 wegen bestehender Probleme im Bereich„Ängstlichkeit” und„Unsicherheit” vorstellig geworden und hatten keine Therapieerfahrung; die restlichen 5 rekrutierten sich aus einer Untersuchung der 5. Klassen einer Realschule auf Lese-RechschreibSchwäche hin. Bei der routinenmäßigen Mitteilung der Ergebnisse an die Eltern erwähnten diese Ängstlichkeit und Unsicherheit ihrer Kinder. Den Eltern wurde daraufhin die Teilnahme an der geplanten Maßnahme angeboten, für die sich alle auch interessierten.
Nach einem Schulbesuch, der eine verdeckte Verhaltensbeobachtung möglich
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machte, und einem telefonischen Kontakt mit den Eltern kam es bei neun Familien zum persönlichen Erstkontakt. Bei 6 dieser Familien lag eine Indikation für die Intervention vor, und sowohl die Kinder als auch die Eltern waren bereit daran teilzunehmen. Bei den ausgewählten Kindern waren 4 Mädchen und 2 Jungen, wobei die Altersspanne von 9;8 bis 12;3 Jahren reichte. Jeweils drei der Kinder gehörten in die Kategorie„depriviertes Kind” und„Sonntagskind”.
3.5. Datenerhebung
Zur Effektkontrolle wurden systematische Verhaltensbeobachtungen mit Hilfe des Beobachtungsbogens für sozial unsicheres Verhalten(BSU; Petermann, 1986, S. 28 f.) durchgeführt. Dieser Bogen besteht aus 11 Kategorien, von denen 9 das Problemverhalten beschreiben, die enleitend genannt wurden(vgl. Abschnitt 1). Hinzu kommen die Zielverhaltensweisen des Trainings. So sollen sich sozial unsichere Kinder selbst behaupten und eigenständigen Aktivitäten nachgehen. Auf diese beiden Zielverhaltensweisen soll genauer eingegangen werden.
Sich selbstbehaupten heißt: angemessen Forderungen stellen können, ablehnen können(nein sagen können), aber auch kompromißbereit auf soziale Verpflichtungen eingehen können(ja sagen können), Meinung und Kritik äußern und annehmen können. Die eigenständigen Aktivitäten umfassen als wichtigstes die selbständige Kontaktaufnahme zu anderen Kindern, sich trennen können von bedeutenden Bezugspersonen(z. B. der Mutter) bzw. verlassen können der elterlichen Wohnung und nicht resignieren bei oder verweigern von schwierigen sozialen Aufgaben.
Die Daten zur Effektkontrolle wurden von zwei geschulten Experten(Dipl.Psychologinnen) auf einer fünfstufigen Einschätzungskala gewonnen. Beurteilt wurden die Videomitschnitte der Trainingsstunden, wobei aus jeder Stunde drei Stichproben mit der Länge von je 10 Minuten gezogen wurden. Gemäß den
Empfehlungen von Westmeyer& Manns(1977) wurde dabei eine systematische Verhaltensbeobachtung zur Erstellung einer Verhaltens- und Verlaufsdiagnose durchgeführt, d.h. von jeder Trainingsstunde wurde die 6.—15., 21.— 30. und 36.—45. Minute mit Video aufgezeichnet und anschließend aufgrund des BSU beurteilt. Bei diesen Beurteilungen ergab sich eine minimale Beurteilerübereinstimmung von 80% zwischen den beiden Experten. Auf diese Weise wurden pro Kind zwischen 48 und 57 Einschätzungen über den Trainingsverlauf erhoben. Das bedeutet: Für das Einzeltraining— je nach Anzahl der erforderlichen Sitzungen— zwischen 18 und 27, für die Ausblendungsphase 12(= 4 freie Spielstunden) und für das Gruppentraining 18 Urteile. Durch diese Art der Datenerhebung liegt eine ausreichende Anzahl von wiederholten Messungen vor, um eine einzelfallstatistische Effektprüfung zu realisieren.
4. Überblick über Ziele und Vorgehensweisen des Trai
nings mit sozial unsicheren Kindern
Die folgenden Ausführungen möchten zeigen, wie durch Selbstsicherheitstrainings Defizite bei Kindern nachhaltig abgebaut werden können. Solche Vorgehensweisen weisen beim Abbau von Unsicherheit im Erwachsenenalter eine fast vierzigjährige Tradition auf, die auf Salter(1949) zurückgeht. Erst sehr spät wurden diese Bestrebungen auf Kinder übertragen(vgl. Bornstein et al., 1977; Meijers, 1978; Rutter& O’Brain, 1980). Umfassende Behandlungspakete, wie das nachfolgende(vgl. Petermann, 1986) fehlen jedoch noch.
Für einen effektiven Abbau von sozial unsicherem Verhalten ist die Kenntnis der Sozialisationsbedingungen, unter denen das Kind das Problemverhalten erworben hat, entscheidend. Unabhängig von der individuellen Entstehungsgeschichte sind die Kinder der Überzeu
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1986