Jürgen Gössel: Zur Frage der primären Prävention in der(Sprach-)Behindertenpädagogik
Schwerpunkt einer fächerübergreifenden Pädagogik”(1976, 141) wird, so gilt es bestehende Konzepte- hier die Praxis der Beratungsstellen in BW(BadenWürttemberg)- unter diesem Gesichtspunkt zu überprüfen, vorhandene Mängel aufzudecken und Möglichkeiten einer verbesserten Praxis zu eruieren, WObei letzteres auch Auswirkungen auf das Selbstverständnis der pädagogischen Früherfassung und-förderung(sprach-) behinderter und von(Sprach-)Behinderung bedrohter Kinder haben wird. Folgerungen, die aus diesen Untersuchungsergebnissen resultieren, müssen zunächst jedoch vor dem Hintergrund einer begrifflichen Klärung der Früherfassung und-förderung gesehen werden, die an dieser Stelle nur punktuell angedeutet werden können(vgl. hierzu Gössel 1986), sowie einer kurzen vergleichenden Darstellung der durch Richtlinien und Erlasse geregelten diesbezüglichen Praxis der einzelnen Bundesländer.
Zum Begriff der Früherfassung und Frühförderung
Die Einsicht in die Notwendigkeit einer frühen Erfassung und förderung behinderter Kinder ist nicht neu, jedoch mit unterschiedlichen Begriffen wie Früherfassung,-erkennung,-beratung,-erziehung,-maßnahmen etc. besetzt, wobei Heese(1977, 42) zuzustimmen ist, wenn er den für pädagogische Belange relevanten Begriff der ‚Frühförderung’ als Sammelbegriff benützt, da die damit in Zusammenhang stehenden Maßnahmen sich gegenseitig bedingen.
Wenn hier dennoch eine Differenzierung hinsichtlich der Begriffe ‚Erfassung’ und ‚Förderung’ vorgenommen wird, so sollen hierdurch jeweils bestehende Defizite verdeutlicht werden, wobei die gemeinsame Vorsilbe ‚Früh-’ als Hinweis eines ausschließlich an der normalen Entwicklung orientierten rechtzeitigen Handelns zu verstehen ist. Erst in diesem Vergleich lassen sich sodann
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unterschiedliche und sich bedingende Auffälligkeiten erkennen.
Der Verfasser trifft in der Folge bewußt keine Einteilung in ‚Frühphase’(0-3 Jahre) bzw. ‚Kindergarten-” und/oder ‚Vorschulalter’ oder ‚Elementarphase’ etwa wie Braun et al.(1982, 112)- da diese in zwei altersbezogene Gruppierungen vorgenommene Unterscheidung einerseits keinen direkten Zusammenhang mit der Sprachentwicklung und deren Störung aufweist. Andererseits wird durch diese Altersgruppierung die noch überwiegend nach schulischen Gesichtspunkten orientierte Praxis der behinderungsspezifisch arbeitenden Beratungsstellen und der sich hieraus ergebenden Problematik unterstützt. Sollte eine ungefähre altersbezogene Einteilung überhaupt sinnvoll sein, dann die nach einer Zeit der vorsprachlichen und sprachlichen Entwicklungsphase, um Hinweise für eine durchzuführende Differentialdiagnostik und sich ergebende Folgemaßnahmen zu erhalten.(Die in der Folge vom Verfasser verwendeten Begriffe ‚Förderung’ und ‚Therapie’ werden in diesem Aufsatz synonym benutzt).
Dies wird besonders deutlich beim Spracherwerbsprozeß. So wird in der neueren Entwicklungspsychologie dieser Prozeß nicht als isolierter und additiver Vorgang verstanden, sondern als Teil einer umfassenden Gesamtentwikklung, in der sich senorische, motorische, kognitive, emotionale sowie soziale Entwicklungsprozesse gegenseitig beeinflussen und ergänzen. Hierbei sind sämtliche Funktionen von übergeordneten Größen, nämlich den biologischen und neurophysiologischen Voraussetzungen sowie den Umwelt- und Interaktionsbedingungen abhängig(stellvertretend für viele vgl. Gössel 1986; Grohnfeldt 1983). In diesem integrativ mit wechselseitigen Überschneidungen, gegenseitigen Beeinflussungen und altersspezifischen Schwerpunkten verlaufenden Entwicklungsprozeß müssen somit bestimmte Phasen entwickelt und überwunden sein, um Grundlage für andere Entwicklungsabläufe zu sein.
Damit ist zugleich gesagt, daß es bei auf
tretenden Störungen, die auch nur einen Bereich betreffen können, zu einer integrativen Beeinträchtigung kommt, wobei hiervon, u.U. auch die Spachentwikklung betroffen sein kann. Dies trifft z. B. auf sämtliche Kinder zu, die in Folge krankhafter Veränderungen der Sprechorgane, wie Spaltbildungen, Wucherungen, Lähmungen etc. von einer (Sprach-)Behinderung bedroht sind, auf Kinder mit bestimmten Dysarthrieformen, die sich u. a. schon in Schluck- und Kauschwierigkeiten während des 1. Lebensjahres zeigen, kongenitale Dysphasien, Agnosien etc. Infolge dieser Verflechtung von Wahrnehmung, Motorik und Sprache sowie ihrer senso- und psychomotorischen Komponenten müssen deshalb- im Sinne einer primären Prävention der von(Sprach-)Behinderung bedrohten Kinder- unterschiedliche Entwicklungsbereiche, die u.a. die Sprachentwicklung bedingen, in ihrer diagnostischen Phase und den rehabilitativen Maßnahmen berücksichtigt werden(Borstel 1980; Dirnberger 1977; Kolzowa 1975; Kruse 1983; Lindemann 1977; Okel/Schnorr 1976; Sachers 1981a, 1981b; Schoppmann 1984; Walther 1977; Wille/Staub 1983). Keine ‚Sprachförderung beim Säugling’- wie mancher Kritiker meint- beabsichtigt, sondern die Beachtung und therapeutische Betreuung der im Zusammenhang mit der Sprachentwicklung bereits beeinträchtigten Faktoren, um mit entsprechenden Maßnahmen eine drohende schwere (Sprach-)Behinderung von vorneherein zu mildern oder nicht aufkommen zu lassen. Umso mehr treffen diese auf ganzheitlicher und somit multidimensionaler Ebene durchzuführenden Maßnahmen- im Sinne einer sekundären Prävention- auf bereits schwerer (sprach-)behinderte Kinder zu.
Für die Praxis an Beratungsstellen für (sprach-)behinderte und von(Sprach-) Behinderung bedrohte Kinder bedeutet dies, daß eine Früherfassung und-förderung nicht nur interdisziplinär durchgeführt werden, sondern auch schon in der vorsprachlichen Phase beginnen muß. Nur hierdurch kann der zwischenzeitlich schon zur Trivialität gewordenen Tatsa
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1988