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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Jürgen Gössel: Zur Frage der primären Prävention in der(Sprach-)Behindertenpädagogik

che, daß für diese Kinderjede Verzöge­rung notwendige sonderpädagogischer Maßnahmen... eine unnötige und des­halb unverantwortliche Erschwerung der Daseinsbewältigung bewirkt und zu einer sozialen und personalen Fehlent­wicklung beiträgt(Knura 1974, 146), in der Praxis entsprochen werden. An­spruch und Wirklichkeit klaffen jedoch aus später darzustellenden Gründen noch weit auseinander.

Ziele und Aufgaben einer pädagogisch initiierten Früherfassung und-förderung

Frühe pädagogische Maßnahmen bei (sprach-)behinderten und von(Sprach-) Behinderung bedrohten Kindern zielen nach Braun et al(1982, 114)auf Seiten des Kindes auf die Entfaltung und Aus­schöpfung seiner Entwicklungsmöglich­keiten, auf seiten seiner Erzieher auf ei­ne Annahme des Kindes, auf die Schaf­fung von Erfahrungsmöglichkeiten und auf die Gestaltung interaktions- und kommunikationsfördernder Bedingun­gen.

Die Theorie und Praxis einer diesbezüg­lich orientierten Früherfassung und-för­derung erfordert ein entsprechendes umfassendes differentialdiagnostisches und pädagogisches Handeln. Umfas­send kann in diesem Zusammenhang aber nicht bedeuten, eine(Sprach-)Be­hinderung z.B. nur als hirnorganische Teilleistungsstörung zu verstehen, son­dern ebenso als möglichen Ausdruck ei­ner zukünftigen oder bereits vorhande­nen sozialen Beziehungsstörung, perso­nalen Verunsicherung etc., mit anderen Worten, in einem ganzheitlichen Zu­sammenhang.

So sind nach Abklärung der erkennba­ren Störungen und deren Bedingungsge­füge für eine sinnvolle Förderung beson­ders auch altersgemäße Wünsche und Interessen des Kindes zu berücksichti­gen, um eine positive Beziehung auf­bauen zu können. Erst die sich hieraus entwickelnden vielfältigen Aktivitäten

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1988

im Sinne eines selbstbestimmenden Handelns des Kindes ermöglichen die Basis für therapeutisches Handeln. Da­mit ist die pädagogisch initiierte Frühför­derung eingebettet in ein kommunikati­ves Erziehungsverständnis auf der Grundlage handlungsorientierter Me­thoden(Kautter et al 1983; Grohnfeldt 1983) anstelle eines manipulativen Er­ziehungsverständnisses(Mollenhauer 1982).

Dieser Ansatz einer pädagogisch initiier­ten Frühförderung impliziert zugleich eine zyklische Struktur in mehrfachem Sinne, d.h. daß durch neu gewonnene Erfahrungen bei allen am Therapiepro­zeß beteiligten Personen das Ziel und die Vorgehensweise geändert werden kann. Zum einen betrifft dies die Analy­sierung der möglichen oder geplanten Handlungsvorhaben des Kindes, damit die therapeutische Betreuung so gestal­tet werden kann, daß das Kind zur Betä­tigung seiner gestörten Funktionen nicht nur angeregt wird, sondern diese in den therapeutischen Prozeß aufgenom­men werden können. Die Rückschlüsse und Erkenntnisse hieraus müssen ande­rerseits gleichzeitig ihren Niederschlag in der Beratung der Eltern als auch der weiteren interdisziplinären Besprechun­gen bezüglich der therapeutischen Ge­samtplanung haben, wobei sich letztere ebenfalls gegenseitig beeinflussen. Aus­gehend von einer ganzheitlichen Förde­rung im Sinne einerAnerkennung des Kindes als Subjekt seiner Entwicklung (Speck 1983, 97) müssen somit die ver­schiedenen Entwicklungsdimensionen berücksichtigende, aufeinander abge­stimmte Fördermethoden erstellt wer­den, die in der Überwindung methodi­scher Einseitigkeiten das(sprach-)behin­derte oder von(Sprach-)Behinderung bedrohte Kind als ganze Person in sei­nen vielfältigen Lebensbezügen sieht und folglich auch den individuellen häuslichen Erfahrungsalltag des Kindes mitberücksichtigt und einbezieht. Letz­teres gilt für den gesamten Bereich der Frühförderung, ist aber von besonderer Bedeutung für die Zeit bis zum Eintritt in einen Kindergarten, da hier nicht nur grundlegende, sich gegenseitig bedin­

gende Entwicklungsschritte vollzogen werden bzw. sich anbahnen, sondern die Eltern den wichtigsten Umweltfaktor bzw. überwiegend die einzigen Bezugs­personen darstellen.

Bedingt durch diese symbiotische Bin­dung kann jegliche Entwicklungsstörung also auch eine(Sprach-)Behinderung oder die Gefahr einer solchen- sinnvoll nur über die Eltern beeinflußt werden. Daraus folgt, daß eine Frühförderung bis zum Eintritt in einen Kindergarten primär durch ausführliche Beratung und Anleitung der Elternvor Ort, d.h. im sozialen Umfeld des Kindes geschehen muß. Sich hieraus ergebende Möglich­keiten, die ein Kind zu Aktivitäten ver­anlassen, müssen hierbei eruiert und evtl. kritisch analysiert werden. Die El­tern dürfen in ihrer Tätigkeit jedoch nicht zu abängigen Größen des Fachper­sonals im Sinne vonCo-Therapeuten werden, die handlungszentriert vorgege­bene Schritte nachvollziehen, da sie sonst nach Speckals Eltern verunsi­chert und denaturiert werden(1983, 100). Sie sind vielmehr als Teil eines Ganzen zu sehen, die einerseits selbst lernen müssen wie sie mit eigenem Ge­fühls- und Bewegungserleben ihrem Kinde neue Anreize vermitteln können, um mit Hilfe alltäglicher Dinge neue Strukturen aufzubauen und dem Kind Möglichkeiten zu bieten, diese der kon­kreten Umgebung anpassen zu lernen. Andererseits aber auch lernen, ihr eige­nes Verhalten, das durch ein entwick­lungsgestörtes Kind anders beeinflußt wird als durch ein gesundes, ebenfalls zu ändern.

Ähnliches trifft für den Bereich des Kin­dergarten zu, da die im Sprachheilkin­dergarten begonnenen Förderansätze und Fortschritte durch die Eltern mitge­tragen werden müssen, um sie- losge­löst von der institutionellen Einrichtung mit zeitlich vorgegebenen Fördereinhei­ten- in die konkrete Alltagssituation der häuslichen Umgebung mit ihren indivi­duellen Möglichkeiten bzw. Notwendig­keiten zu übernehmen und zu stabilisie­ren. Von dieser Zielsetzung her muß ei­ne pädagogisch initiierte Früherfassung und-förderung(sprach-)behinderter

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