Jürgen Gössel: Zur Frage der primären Prävention in der(Sprach-)Behindertenpädagogik
und von(Sprach-)Behinderung bedroh
ter Kinder zusätzliche Aufgaben über
nehmen, die sie aus den sonderpädagogischen Mauern einer schul- und fachspezifischen Förderung wegführt.
Dies sind:
- Interdisziplinäre Zusammenarbeit im Bereich der Erfassung, Diagnostik und Förderung, die - eine frühestmögliche Erfassung
diesbezüglich bedrohter bzw. bereits behinderter Kinder ermöglicht;
—- eine sich aus der vorhandenen Beeinträchtigung ergebende notwendige differentialdiagnostische Abklärung erfordert;
- eine entsprechend der drohenden oder bereits eingetretenen sprachlichen Beeinträchtigung nach handlungsorientierten Methoden vorgehende ganzheitliche Förderung einleitet, wobei sowohl
- die Beratung der Eltern im Sinne eines die therapeutische Versorgung unterstützenden Partners
— als auch der praktische Erfahrungsaustausch bzw. die Kooperationsbereitschaft unter den beteiligten Fachkompetenzen von einer für eine sinnvolle Frühförderung ausschlaggebenden Bedeutung sind.
Zum gegenwärtigen Stand der pädagogischen Früherfassung und-förderung (sprach-)behinderter und von(Sprach-)Behinderung bedrohter Kinder in der BRD.
Sowohl im Zusammenhang neu gewonnener Erkenntnisse als auch des Ausbaus der Sonderschulen für Sprachbehinderte wurden- z. T. erst in den letzten 10-15 Jahren- durch den Gesetzgeber Vorgaben für ein entsprechendes Handeln gegeben, das auf Grund der Kulturhoheit der einzelnen Bundesländer in diesen unterschiedlich organisatorisch, rechtlich und personell geregelt ist. Bedingt durch diese Kompetenzzersplitterung, administrative Zuordnung und
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finanzielle Zuständigkeit lassen sich die einzelnen Konzepte der verschiedenen Bundesländer nur grob miteinander vergleichen(vgl. hierzu die diesbezüglichen Erlasse und Richtlinien der jeweiligen Bundesländer; Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V. 1980; Gössel 1986). Dennoch soll durch eine zusammenfassende kritische Betrachtung die momentane Praxis in der BRD verdeutlicht werden.
So fällt auf, daß sich die jeweiligen Regelungen nur auf die Erfassung und Förderung bereits„sprachbehinderter Kinder” beziehen, während Kinder, die noch keine Sprachbehinderung aufweisen, jedoch durch unterschiedliche, den multidimensionalen Bedingungszusammenhängen des Spracherwerbs entsprechenden Umstände(Gössel 1986) von einer (Sprach-)Behinderung bedroht sind, nicht erwähnt werden.
Dies geht u. a. sowohl aus der allgemeinen Terminologie in den Regelungen der einzelnen Bundesländer sowie der Bezeichnung der Beratungsstellen hervor. Besonders deutlich wird dies in den Richtlinien in BW. Trotz der festgestellten Notwendigkeit, vielfach einer drohenden Sprachbehinderung schon am Anfang der Sprachentwicklung durch geeignete Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen z.B. Förderung der Wahrnehmung, der Motorik, psycho-sozialer Faktoren etc. zu begegnen, wird durch die Verwendung der Präposition „mit” auf bestimmte, bereits vorhandene Beeinträchtigungen Bezug genommen.
Kinder, bei denen es gilt, bedingt durch das allgemeine Störungsbild einer abzusehenden Beeinträchtigung der Sprache sowie damit in Zusammenhang stehender Entwicklungsbereich vorzubeugen, werden somit erst erfaßt, nachdem die sprachliche Störung erkennbar, d. h. mit anderen Worten bereits vorhanden ist. So sollen z.B. LKG-Kinder erst nach entsprechenden Operationen betreut werden. Unabhängig von psychosozialen Schwierigkeiten, die in der Familie durch die Tatsache auftreten können, ein Kind mit einer Anomalie zu haben, wird einerseits die Zeit der vorsprachli
chen Entwicklung eines Kindes in der den Spracherwerb bzw. die Sprachentwicklung voraussetzenden Bereiche wie Wahrnehmung, Motorik etc. durch spielerische Übungen von Mutter und Kind angegangen werden können, nicht genutzt. Dies betrifft andererseits aber auch deren mögliche Auswirkungen auf das Verhältnis zum Kind als auch beim Kind selbst(Gössel 1986, 124 ff.), die es aufzufangen bzw. abzubauen gilt.
In einigen Bundesländern wie z. B. Bremen, Hessen, Saarland und SchleswigHolstein werden Maßnahmen, die- abgesehen von medizinischen Rehabilitationseinrichtungen- als„Früherfassung und-förderung sprachauffälliger Kinder” bezeichnet werden, zum größten Teil sogar erst kurz vor der eigentlichen Schulpflicht aufgenommen. Es muß in diesem Zusammenhang davon ausgegangen werden, daß entweder die geforderte und sicherlich oft auch beabsichtigte„primäre Prävention” falsch verstanden oder noch nicht verwirklicht wird und es sich hierbei um eine reine „sekundäre Prävention” handelt, die darüberhinaus in einigen Bundesländern noch sehr spät einsetzt.
Dies trifft auch für BW zu, wobei im Gegensatz zu anderen Bundesländern einschränkend festgehalten werden muß, daß mit der Erfassung und therapeutischen Betreuung bereits bestehender Sprachbehinderung„daraus sich ergebende Störungen der Gesamtentwicklung”(Ministerium für Kultus und Sport BW 1971, 15) verhindert werden sollen und somit entsprechende Maßnahmen früher beabsichtigt sind.
Die Durchführung der therapeutischen Maßnahmen wird überwiegend von Sonderschullehrern und/oder Logopäden, in BW ausschließlich von Sonderschullehrern vorgenommen. Weitere in Zusammenhang mit der Sprachstörung stehende Störungsbereiche müssen durch entsprechende Maßnahmen anderer Institutionen abgedeckt werden. Ist dies nicht der Fall, können die mit der jeweiligen Sprachstörung korrespondierenden Bedingungszusammenhänge allein durch die Kompetenz des Sonderschullehrers bzw. Logopäden nur unzu
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1988