Jürgen Gössel: Zur Frage der primären Prävention in der(Sprach-)Behindertenpädagogik
kommen zu lassen bzw. die Förderung bereits schwerer sprachbehinderter Kinder auf ganzheitlicher und somit multidimensionaler Ebene aufzunehmen. Dies bedeutet jedoch, daß erfassende und helfende Maßnahmen nicht erst einsetzen dürfen, wenn sich schwere sprachliche Beeinträchtigungen schon lange als hör- und u. U. sichtbare Zeichen einer Entwicklungsstörung äußern. Vielmehr sind wichtige, für den Entwikklungsprozeß bedeutende Lebensjahre zu nutzen, um Stigmatisierungsgefahren, negative Erfolgserlebnisse und in der Folge möglichen psychischen, sozialen, motorischen oder geistigen Beeinträchtigungen entgegenzuwirken.
Eine im vorgenannten Sinne verstandene primäre Prävention ist in der Praxis jedoch nicht bzw. kaum existent. Es muß dagegen von einer nahezu ausschließlichen sekundären Prävention gesprochen werden. Hierbei dürfen die aufgezeigten Mängel in der Früherfassung und- förderung nicht isoliert gesehen werden, sondern als z. T. sich gegenseitig bedin
Literatur
gende Ursachenverkettung. Sie basieren einerseits auf Richtlinien, die in ihrer sprachlichen Regelung eine primäre Prävention sowohl im Bereich der Erfassung als auch Förderung nicht deutlich genug fordert, andererseits aber auch auf einer zu geringen Anzahl an Förderstunden in der Hausbetreuung, Ambulanz und eingerichteten Kiga S. Darüberhinaus sind pädagogische wie medizinische Ausbildungsdefizite sowie eine zu fachspezifisch noch überwiegend am Symptom orientierte Sichtweise(vgl. Speck 1983), die sich im Bereich der Erfassung und Förderung auswirken, hierfür verantwortlich. Das von Prändl in einem bemerkenswerten Aufsatz(1984, 1) angeführte, im Grundgesetz verankerte ideelle Recht auf Bildung und Erziehung bedarf in diesem Zusammenhang gesehen nicht nur der Konkretisierung und Umsetzung im realen Bildungsgeschehen, sondern muß- gerade bei behinderten und von Behinderung bedrohten Kindern-, wenn nötig, schon im 1. Lebensjahr beginnen. Dies trifft auch für
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von(Sprach-)Behinderung bedrohte Kinder zu. Trotz der im Vergleich zu anderen Bundesländern herausragenden Stellung des Konzeptes in BW ist eine diesbezügliche Änderung- auch im Hinblick auf die schon vorhandene Modellhaftigkeit- deshalb dringend angezeigt. Hierbei sind bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen, die eine Überwindung prinzipieller Schwierigkeiten sowohl auf pädagogischer wie medizinischer, aber auch ministerieller Ebene erfordern. Zuvor angeführte Ausbildungsdefizite bei allen beteiligten Berufsgruppen überschneiden sich in diesem Zusammenhang u. a. auch mit Erfordernissen eines Umdenkens hinsichtlich eines notwendigen zukünftigen Einsatzes von Sprachheilpädagogen, der sich nach Ansicht des Verfassers von ministerieller Seite noch zu stark an schulischen bzw. vorschulischen Praxisfeldern orientiert. Hier scheinen sich Studienschwerpunkte und Praktika an Hochschulen noch zu sehr mit ministeriellen Einstellungspraktiken zu ergänzen.
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8 HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1988
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