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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Entwicklung der Lesefähigkeit während des ersten

Schuljahres

Von C. Klicpera und S. Schachner-Wolfram

30 Kindern der ersten Klasse Volksschule wurden im Verlauf des Schuljahres in sechswöchigem Abstand kurze Leseaufgaben gestellt. Mit den Aufgaben wurde die Entwicklung der Fähigkeit geprüft, bekannte, d.h. von den Kindern bereits im Unterricht gelesene Wörter, neue Wörter und Pseudowörter laut zu lesen. Es zeigte sich, daß über längere Zeit trotz systematischer Einfüh­rung der Graphem-Phonem Korrespondenzen im Un­terricht die meisten Kinder nur bereits bekannte Wörter sicher lesen konnten. Eine gewisse Geläufigkeit beim Lesen war am Ende der ersten Klasse gleichfalls nur bei bekannten Wörtern erreicht. Kinder, die am Ende des ersten Schuljahres zu den guten bzw. den schwachen Lesern zählten, konnten bereits zu Anfang des Leseun­terricht deutlich voneinander unterschieden werden. Schwachen Lesern bereitete vor allem des Erlernen der Graphem-Phonem Korrespondenzen und ihre Verwen­dung beim Erlesen unbekannter Buchstabenfolgen gro­ße Mühe. Sie zeigten jedoch von Anfang an auch eine geringere Sicherheit und Geläufigkeit beim Lesen be­reits bekannter Wörter.

30 first grade children whose reading instruction inclu­ded systematic training in grapheme-phoneme corres­pondences were given short reading tasks every six weeks throughout the school year. The reading tasks were designed to examine the ability to read aloud fa­miliar words, i.e. words that were part of their basal readers and new words and pseudowords containing grapheme-phoneme correspondences already practi­ced. Inspite of the systematic instruction in phonics, for a relatively long time the children did much better on the familiar words. In addition, even at the end of the year they had achieved automaticity in reading fami­liar words only. Children who at the end of first grade were classified as good and poor readers respectively could already be distinguished using their reading sco­res from the beginning of the year. Poor readers had great difficulty in learning the grapheme-phoneme cor­respondences and in applying this knowledge in rea­ding new words.

Die Leseentwicklung wird in der moder­nen Leseforschung als Ausbildung von Informationsverarbeitungsroutinen

oder, vereinfacht dargestellt, als die Ent­wicklung von Teilfertigkeiten aufgefaßt (Barron 1981, Scheerer-Neumann 1977). Die Aneignung der Schriftsprache ge­schieht einerseits durch die Entwicklung wortspezifischer Kenntnisse, also durch die zunehmende Vertrautheit mit der Schreibweise wiederholt gelesener Wör­ter(im Informationsverarbeitungsmo­dell als direkter Zugang vom geschriebe­nen Wort zur Bedeutung des Wortes be­zeichnet) und andererseits über das Wis­sen um Buchstaben-Lautzuordnungen (Graphem-Phonem Korrespondenzen) und die Fähigkeit, diese zum Erlesen

neuer Wörter einzusetzen(phonologi­sche Rekodierung). Im Informations­verarbeitungsmodell wird die phonolo­gische Rekodierung als indirekter Zugang zum Erkennen der Wortbedeu­tung bezeichnet, da das Erfassen der Bedeutung eines Wortes erst nach seiner Umwandlung in eine gesprochene Form möglich ist. Diese beiden Fertigkeiten, die unmittelbar an den visuellen Merk­malen der Wörter ansetzen und so das Erkennen und Verstehen ermöglichen (im Informationsverarbeitungsmodell als bottom-up Prozesse bezeichnet); werden ergänzt und unterstützt durch die Sinnerwartung des Kindes, durch sein Verständnis der Lesesituation als ei­ner Form sprachlicher Mitteilung. Die

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 1, 1988

Sinnerwartung ermöglicht es dem Kind, sein Vorwissen und seine bereits ausge­bildeten sprachlichen Fähigkeiten ein­zusetzen und dadurch den Kontext mit zur Entschlüsselung und zum Erkennen der zu lesenden Wörter heranzuziehen (im Informationsverarbeitungsmodell als top-down Prozesse bezeichnet).

Obwohl die Fertigkeiten, die zum Er­kennen von Wörtern führen, durch die Fähigkeit, den Kontext mit zur Ent­schlüsselung des Gelesenen zu verwen­den, unterstützt werden, kann in der Ausbildung der wortspezifischen Lese­fähigkeit und der phonologischen Reko­dierungsfähigkeit die Hauptaufgabe ge­sehen werden, die zu Beginn des Lesen­lernens gemeistert werden muß(Perfetti

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