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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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C. Klicpera und S. Schachner-Wolfram: Entwicklung der Lesefähigkeit während des ersten Schuljahres

1985). Untersuchungen über die Le­seentwicklung(Barron 1981, Marsh et al. 1977) weisen darauf hin, daß sich in der Ausbildung dieser beiden Fertigkeiten verschiedene Phasen unterscheiden las­sen. In einer ersten Phase beruht das Le­sen überwiegend auf der Vertrautheit mit den Merkmalen einiger Wörter. Die Kinder identifizieren die Wörter nur auf Grund hervorstechender, oft globaler Merkmale. Erst wenn der Umfang der den Kindern bekannten Wörter zu groß wird, beginnen sie mehr und spezifische­re Informationen beim Lesen zu berück­sichtigen. Die wortspezifischen Kennt­nisse der Kinder werden differenzierter. In dieses Stadium fällt die eigentliche Ausbildung des segmentweisen, d. h. zu Anfang buchstabenweisen Erlesens von Wörtern(phonologische Rekodierung). Der Entwicklung der Fähigkeit zur Gra­phem-Phonemzuordnung kommt vor allem deshalb eine besondere Bedeu­tung für das Lesenlernen zu, da sie beim Lesen eine Unabhängigkeit von fremder Hilfe und damit ein selbständiges Lesen ermöglicht(Jorm und Share 1983). Das Erlernen der phonologischen Rekodie­rung wird auch als die wichtigste Hürde aufgefaßt, an der leseschwache Kinder scheitern(Barron 1981, Jorm 1984). Die bisherigen Untersuchungen zu dieser Frage stammen allerdings überwiegend aus dem anglo-amerikanischen Sprach­raum, mit seiner recht unregelmäßi­gen und daher schwer zu erlernenden Graphem-Phonem Korrespondenz. Es ist nicht sicher, wieweit sich diese Ergeb­nisse auf leseschwache Kinder, die die deutsche Schriftsprache erlernen, über­tragen lassen. Dabei muß berücksichtigt werden, daß- mitbedingt durch die Un­regelmäßigkeit der Graphem-Phonem­zuordnung- im anglo-amerikanischen Sprachraum Graphem-Phonemzuord­nungen weit weniger systematisch in den Erstleselehrgängen unterrichtet werden als beim typischen deutschspra­chigen Erstleseunterricht.

Wie können wir in der Leseentwicklung zwischen der wortspezifischen Lesefer­tigkeit und dem phonologischen Reko­dieren differenzieren? Die Entwicklung dieser beiden Fertigkeiten kann am be­

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sten dargestellt werden, wenn die Lese­leistung der Kinder bei verschiedenen Wortarten überprüft wird. Wortspezifi­sche Kenntnisse und Vertrautheit mit der Schreibweise von Wörtern werden am ehesten beim Lesen bereits bekann­ter Wörter angewandt. Das Lesen neuer Wörter, die den Kindern in schriftlicher Form noch nicht bekannt sind, ist hinge­gen weit stärker von der Fähigkeit ab­hängig, Wörter über das Wissen um die Buchstaben-Laut-Beziehungen zu erle­sen. Allerdings gehen selbst bei diesen, den Kindern neuen Wörtern, noch ande­re Faktoren ein. Vor allem wenn es sich um Wörter handelt, die den Kindern aus der Alltagssprache geläufig sind, können diese bei einer gewissen Vertrautheit mit der Schriftsprache vielfach schon auf Grund einiger Merkmale identifiziert werden, ohne wirklich zur Gänze erle­sen zu werden. Letzteres ist nur bei einer anderen Gruppe von Wörtern der Fall, nämlich bei sinnlosen Silben oder- wie diese häufig genannt werden- bei Pseu­dowörtern. Um diese Buchstabenfolgen richtig lesen zu können, müssen alle Buchstaben berücksichtigt werden und die Aussprache muß allein auf Grund der Kenntnisse über Buchstaben-Laut­Beziehungen erfaßt werden.

Ein Vergleich der Leseleistung für diese drei Wortarten ermöglicht also, die Aus­bildung der beiden Komponenten des Worterkennens während der Leseent­wicklung darzustellen.

Bei der Ausbildung der Lesefähigkeit sollte jedoch noch ein anderer Aspekt berücksichtigt werden. Zuerst müssen die Kinder Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben und lernen, diese mit einiger Sicherheit, das heißt ohne Fehler anzu­wenden. Im nächsten Schritt geht es nicht mehr nur um die Sicherheit beim Lesen, sondern auch um die Geläufig­keit bei der Anwendung der erworbenen Fähigkeiten(Lovett 1981). Während über die Lesesicherheit die Lesefehler Aufschluß geben, können wir die Geläu­figkeit beim Lesen am besten durch die Lesegeschwindigkeit erfassen.

Von diesem Verständnis der Leseent­wicklung ausgehend erhebt sich die Fra­ge, ob in Schwierigkeiten bei der Aneig­

nung einer dieser Fertigkeiten die Ursa­che für spätere Leseschwierigkeiten ge­sehen werden kann und wie frühzeitig ein Zurückbleiben von Kindern mit spä­teren Leseschwierigkeiten beim Erler­nen wortspezifischen Lesens sowie des phonologischen Kodierens festzustellen ist. Es ergeben sich somit folgende Fra­gestellungen und Hypothesen für die Untersuchung:

1. Der Anfang der Leseentwicklung be­steht auch bei einem synthetischen Le­seunterricht weitgehend in einem wort­spezifischen Lesen. Nach dem Informa­tionsverarbeitungsmodell ist also zu Be­ginn der Leseentwicklung nur der direk­te Zugang vom Schriftbild zur Wortbe­deutung möglich, der indirekte Zugang ist noch nicht ausgebildet. Selbst bei ex­pliziter Einführung der Graphem-Pho­nemzuordnung können von den Kin­dern deshalb zu Beginn zwar bereits be­kannte Wörter, aber nur zum Teil neue Wörter gelesen werden. Die Zunahme der bereits gelesenen Wörter führt nach einigen Wochen zu einer größeren Unsi­cherheit und einer Abnahme der Lesesi­cherheit auch bei bekannten Wörtern. Mit weiterem Fortschritt der Leseent­wicklung bildet sich die Fähigkeit zum phonologischen Rekodieren(indirekter Zugang) heraus, damit nimmt der Un­terschied zwischen bekannten Wörtern, neuen Wörtern und Pseudowörter ab. 1 a. Leseschwache Kinder haben vor al­lem Probleme bei der Ausbildung des in­direkten Zugangs beim Worterkennen. Sie unterscheiden sich von guten Lesern daher vor allem beim Lesen jener Wör­ter, zu deren Erlesen die phonologische Rekodierungsfähigkeit eingesetzt wer­den muß. Sie werden also kaum Schwie­rigkeiten bei bereits bekannten Wörtern haben, vor allem nicht zu Beginn der Le­seentwicklung, wo die Anzahl der be­kannten Wörter noch recht gering ist. 2. Lesen ist zu Anfang auch Kontext­spezifisch. Die Wörter werden in dem Kontext am besten erkannt, in dem sie bereits einmal gelesen wurden. Im Ver­lauf der Leseentwicklung erkennen die Kinder recht bald die Möglichkeit, Sinn­stützen für das Erkennen von Wörtern zu benützen. Wörter, die in einem sinn­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1988