C. Klicpera und S. Schachner-Wolfram: Entwicklung der Lesefähigkeit während des ersten Schuljahres
vollen Kontext vorgegeben werden, werden dann sicherer gelesen als Wörter, die einen solchen Kontext entbehren (Wortlisten). Dies gilt vor allem für neue, von den Kindern bisher noch nicht gelesene Wörter.
2 a. Leseschwache Kinder sind stärker auf die Hilfe durch den Kontext beim Lesen angewiesen als gute Leser. Der Unterschied zwischen dem Lesen bereits vertrauter Texte und neuer Texte (auch wenn diese bereits bekannte Wörter enthalten) wird bei ihnen größer ausfallen als bei guten Lesern.
3. Die Ausbildung der Lesegeschwindigkeit ist an die Entwicklung von Lesesicherheit gebunden. Erst wenn Texte bereits einige Zeit mit hinreichender Sicherheit gelesen werden können, kann die Lesegeläufigkeit merkbar zunehmen.
3 a. Schwache Leser werden im Verlauf des ersten Schuljahres nicht die nötige Lesesicherheit entwickeln, auf der eine Geläufigkeit beim Lesen aufbauen kann. Daher wird sich der Unterschied zwischen gut lesenden und leseschwachen Kindern im Verlauf des Schuljahres stark vergrößern.
Untersuchungsmethode
Untersuchungsgruppe: In einer privaten Wiener Volksschule, an die ein Hort angeschlossen ist, konnte für alle Kinder der ersten Klasse Volksschule, die nachmittags den Schulhort besuchten, das Einverständnis der Eltern zur Teilnahme an einer Untersuchung über die Leseentwicklung eingeholt werden. In die Untersuchungsgruppe wurden nur Kinder aufgenommen, deren Muttersprache Deutsch war. Die Stichprobe setzte sich aus 21 Mädchen und 9 Buben zusammen. Das Durchschnittsalter der Kinder betrug 78 Monate(72-92 Monate). 2 Kinder waren um 1 Jahr vom Schulbesuch zurückgestellt worden und hatten in dieser Zeit an einem Vorschulunterricht teilgenommen, die anderen Kinder wurden zeitgerecht eingeschult.
In beiden Klassen wurde von den Lehrern als Leselehrgang„Frohes Lernen” verwendet, ein Leselehrgang, der weitgehend den Prinzipien eines synthetischen Leseunterrichts folgt.
Untersuchungsdurchführung
Verlaufsuntersuchung: Im Laufe der ersten Klasse wurde bei den Kindern fünfmal in einer Einzeltestung, die jeweils eine halbe bis eine Stunde dauerte, der Leistungsstand im Lesen bestimmt. Diese Testung fand erstmals Anfang November, also nach etwa 9 Schulbesuchswochen, statt, die weiteren Tests waren jeweils im Abstand von etwa 5-6 Wochen angesetzt. Für jeden Testzeitpunkt erhielten die Kinder folgende Texte zum Lesen:
1) Vertraute Texte, die die Kinder bereits im Lesebuch gelesen hatten. Von der ersten bis zur dritten Testung bestanden diese Texte aus einzelnen Sätzen des Lesebuchs(erste Testung: 2 Sätze mit jeweils 4 Wörtern; zweite Testung: 3 Sätze mit jeweils 5-6 Wörtern; dritte Testung: 4 Sätze mit 5-7 Wörtern). Bei der vierten und fünften Testung wurde ein etwas längerer zusammenhängender Text(67 bzw. 65 Wörter) vorgegeben.\
2) Sätze, die aus den Kindern bereits bekannten Wörtern neu gebildet wurden. Die Anzahl und Länge dieser neuen Sätze entsprach bei der ersten bis zur dritten Testung der Länge der den Kindern vom Lesebuch her bekannten Sätze. Bei der vierten und fünften Testung wurden fünf neue Sätze vorgegeben, die aus fünf bis sieben Wörtern bestanden.
3) Sätze, die aus neuen, den Kindern noch nicht vom Lesebuch her bekannten Wörtern gebildet wurden. Die Anzahl und Länge dieser Sätze entsprach der Anzahl und Länge der zum jeweiligen Testzeitpunkt vorgegebenen neuen Sätze, die aus bekannten Wörtern gebildet worden waren. Die neu eingeführten Wörter waren dem Kernwortschatz und dem engeren Wortschatz von Plickat (1983) entnommen und waren somit
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1988
häufige, den Kindern geläufige Wörter. Sie enthielten nur Buchstaben, die zum jeweiligen Testzeitpunkt im Leseunterricht eingeführt waren.
4) und 5) bekannte, bzw. neue Wörter in Form einer Wortliste: die gleichen bekannten, bzw. neuen Wörter, die die Kinder in Satzform gelesen hatten, wurden in zufälliger Anordnung als Wortliste zum Lesen vorgegeben.
6) Pseudowörter: Bei der ersten Testung erhielten die Kinder zwei Listen mit je 4 Pseudowörtern zum Lesen, bei der zweiten Testung zwei Listen mit 5-6 Pseudowörtern, ab der dritten Testung jeweils drei Listen mit 5-7 Pseudowörtern. Die Pseudowörter wurden aus den Kindern bereits bekannten Wörtern, durch Vertauschung der Reihenfolge der Buchstaben, oder durch Austausch einzelner Buchstaben gebildet, wobei darauf geachtet wurde, daß die so gebildeten Pseudowörter aus Buchstabenfolgen bestanden, die in der deutschen Schriftsprache geläufig sind, also eine hohe orthographische Regularität aufweisen. Die Reihenfolge der 6 Leseaufgaben war zu allen Testzeitpunkten identisch und fix vorgegeben. Es wurden immer zuerst die vertrauten Sätze gelesen, dann die übrigen Aufgaben mit den bekannten Wörtern, die neuen Wörter und zuletzt die Pseudowörter. Die Sätze wurden immer vor den Listen gelesen.
Bei allen Aufgaben wurden sowohl Lesefehler wie die Lesezeit notiert, folgende Meßwerte wurden gebildet:
a) Prozentsatz der falsch gelesenen Wörter bei jeder Aufgabe
b) Lesegeschwindigkeit bei jeder Aufgabe, ausgedrückt als Anzahl der pro Minute gelesenen Wörter. Abschlußtestung am Ende der ersten Klasse: Mit allen Kindern wurden drei Wochen vor dem Ende des ersten Schuljahres als Gruppentests zwei Diktate, ein Lückentextdiktat(DRT 1-2) und ein standartisiertes Textdiktat der österreichischen Schulbehörden für die erste Schulstufe, zur Bestimmung des Leistungsstandes im Rechtschreiben durchgeführt. Der Leistungsstand im Lesen wurde anhand der Wiener Leseprobe bestimmt, die sowohl eine Wortliste, wie
29
| | | | ;