C. Klicpera und S. Schachner-Wolfram: Entwicklung der Lesefähigkeit während des ersten Schuljahres
einen kurzen zusammenhängenden Text enthält. Nach der Anzahl der Lesefehler bei der Wiener Leseprobe wurden die Kinder in 2 Gruppen unterteilt: in gute Leser und in leseschwache Kinder. Als gute Leser wurden alle Kinder bezeichnet, die weniger Fehler begingen als der Durchschnitt der Gesamtgruppe. Als leseschwach galten jene Kinder, die beim Abschlußtest mehr Lesefehler als der Durchschnitt begingen.
Statistische Auswertung: Um die Fragestellungen der Untersuchung zu beantworten, wurden in multivariaten Varianzanalysen einerseits der Einfluß des Testzeitpunktes und der Aufgaben- bzw. Textart(als wiederholte Messungen), andererseits der Einfluß der Zugehörigkeit zur Gruppe der guten bzw. schwachen Leser auf die Lesegeschwindigkeit und die Lesefehler geprüft.
Da es sich um kein vollständiges faktorielles Design handelte, wurde der Einfluß der Aufgaben- bzw. Textart in einzelne Faktoren gegliedert. Zuerst wurden die drei Wortlisten miteinander verglichen(bekannte Wörter, neue Wörter und Pseudowörter), um den Einfluß wortspezifischer Kenntnisse bzw. der Notwendigkeit zur phonologischen Rekodierung während der Leseentwicklung zu prüfen.
In einem zweiten Kontrast wurde der Einfluß der Vertrautheit mit der Vorgabeform untersucht. Dazu wurden die vertrauten Sätze Sätzen gegenübergestellt, in denen bekannte Wörter in einer den Kindern noch nicht bekannten Form einen neuen Satz ergaben. Um schließlich den Einfluß eines sinnvollen Kontexts auf die Lesefähigkeit zu prüfen, wurden bekannte und neue Wörter verglichen, wenn sie in Form von Sätzen und in Listenform vorgegeben waren. Somit ergeben sich folgende Analysen:
1) Einfluß der Wortart(Vergleich von Listen bekannter Wörter, neuer Wörter und Pseudowörter)
1.1. Lesegeschwindigkeit
1.2. Lesefehler
2) Einfluß der Vertrautheit mit der Vorgabeform(vertraute Sätze gegen be
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kannte Wörter in neuen Sätzen) 2. 1. Lesegeschwindigkeit 2.2. Lesefehler
3) Einfluß der Präsentationsform(bekannte und neue Wörter als Satz bzw. als Liste)
3.1. Lesegeschwindigkeit
3.2. Lesefehler
Ergebnisse Einfluß der Wortart
Lesegeschwindigkeit: Zum ersten Testzeitpunkt hatten bei allen Aufgaben außer dem Lesen von bereits bekannten Sätzen viele der Kinder so große Schwierigkeiten, daß Hilfestellungen des Untersuchers notwendig waren. Bei diesen Kindern war es nicht sinnvoll, die Zeit, die für das Lesen der verschiedenen Wortarten benötigt wurde, zu bestimmen. Der Einfluß der Wortart auf die Entwicklung der Lesegeschwindigkeit wurde deshalb nur für den zweiten bis fünften Testzeitpunkt untersucht, zu denen Werte für die Mehrzahl der Kinder vorlagen.
Beim Vergleich der drei Arten von Wortlisten erwiesen sich die Einflüsse von Testzeitpunkt(F(3,16)= 21.9; p< 0.001), Aufgabe(Wortart)(F(1,16)= 37.0; p< 0.001) und die Interaktion von Wortart und Testzeitpunkt(F(3,16)= 5.7; p< 0.001) als signifikant. Die Lesegeschwindigkeit nahm vom zweiten Testzeitpunkt(etwa 3 Monate nach Schulbeginn) bis gegen Ende des Schuljahres deutlich zu. Sie war während dieser Zeit bei bekannten Wörtern auch deutlich höher als bei neuen Wörtern und bei diesen höher als bei Pseudowörtern(Abb. 1). Zusätzlich fiel jedoch auch noch der Anstieg in der Lesegeschwindigkeit während des Schuljahres bei bekannten Wörtern stärker aus als bei neuen Wörtern, und dieser wieder deutlich stärker als bei Pseudowörtern. Unterschiede in der Lesegeschwindigkeit zwischen den Gruppen der guten und schwachen Leser lassen sich zu allen
Testzeitpunkten erkennen(F(1,16)= 5.1; p< 0.05). Die Interaktion Testzeitpunkt und Gruppenzugehörigkeit war nicht signifikant. Die Unterschiede zwischen den Gruppen waren also bereits frühzeitig vorhanden und wurden vom zweiten zum fünften Testzeitpunkt nicht wesentlich größer. Beim Vergleich der Lesegeschwindigkeit beider Gruppen ließen sich auch Unterschiede im Einfluß der Listenzusammensetzung auf die Lesegeschwindigkeit feststellen. Die Lesegeschwindigkeit fällt bei den leseschwachen Kindern relativ stärker ab, wenn sie nicht bereits bekannte Wörter, sondern neue oder Unsinnswörter zu lesen haben(F(2,16)= 3.3; p= 0.05).
Lesefehler: Auf die Fehlerhäufigkeit beim Lesen der Wortlisten hatten sowohl die Wortart(F(2,19)= 23.0; p< 0.001) wie die Testzeitpunkte(F(4,19)= 22.4; p< 0.001) einen bestimmenden Einfluß. Auch die Interaktion zwischen Wortart. und Testzeitpunkt war signifikant(F(8,19)= 6.4; p= 0.01). Insgesamt wurden von den Kindern bei bekannten Wörtern deutlich weniger Fehler begangen als bei neuen Wörtern und bei diesen wieder weniger Fehler als bei Unsinnswörtern. Im Verlauf des Schuljahres kam es natürlich zu einer starken Abnahme der Lesefehler. Diese Abnahme war jedoch bei den verschiedenen Wortarten nicht gleichmäßig ausgeprägt. Die signifikante Interaktion zwischen Wortart und Testzeitpunkt beruht, wie der post-hoc Vergleich zeigt, darauf, daß zu den beiden ersten Testzeitpunkten signifikante Unterschiede zwischen der Fehlerhäufigkeit bei bekannten Wörtern einerseits und bei neuen Wörtern sowie Pseudowörtern andererseits bestanden. Bei neuen Wörtern wurden etwa ähnlich viele Fehler begangen wie bei Pseudowörtern. Vom dritten Testzeitpunkt an wurden bei bekannten und neuen Wörtern ähnlich viele Fehler begangen, da sich die Anzahl der Fehler bei neuen Wörtern vom ersten auf den zweiten sowie vom zweiten auf den dritten Testzeitpunkt verminderte. Auch bei den Unsinnswörtern nahm die Fehleranzahl ab, diese Abnah
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1988