C. Klicpera und S. Schachner-Wolfram: Entwicklung der Lesefähigkeit während des ersten Schuljahres
viele Fehler auf. Der Einsatz der Fähigkeit, Wörter auf Grund der GraphemPhonem-Zuordnung zu erlesen, ist also noch sehr unsicher. Erst nach etwa einem halben Jahr(ab dem vierten Testzeitpunkt) werden bekannte Wörter von den meisten Kindern sicher gelesen. Für neue Wörter steigt die Lesesicherheit deutlich an und liegt knapp über 5%, Pseudowörter werden jedoch während des ganzen ersten Schuljahres nur mit Mühe gelesen. Selbst nach 9 Monaten Leseunterricht können Kinder also unbekannte Buchstabenfolgen ohne Sinnstütze noch recht unsicher lesen. Leseschwache Kinder haben von Anfang an Schwierigkeiten beim Lesenlernen. Ihre besonderen Schwierigkeiten lassen sich vom ersten Testzeitpunkt an nachweisen. Sie zeigen sich in allen geprüften Bereichen, sowohl beim Lesen bekannten Lesematerials als auch bei neuem Material. Die Schwierigkeiten leseschwacher Kinder sind bei neuen Wörtern und Pseudowörtern besonders stark ausgeprägt. Schwachen Lesern gelingt es nur sehr schwer, BuchstabenLautzuordnungen zum Erlesen neuer Wörter anzuwenden. Sie haben am Ende des Schuljahres beim phonologischen Rekodieren noch fast genauso große Probleme, wie dies gute Leser zu Beginn des Schuljahres hatten.
Bei schwachen Lesern ist aber auch das wortspezifische Lesen von Beginn an beeinträchtigt. Auch bei dieser Gruppe von Kindern zeigt sich der zweite Testzeitpunkt ähnlich wie bei den guten Lesern als kritische Phase, in der die Fehlerhäufigkeit bei bekanntem Lesematerial ansteigt. Ab dem dritten Testzeitpunkt fällt diese wieder ab, aber in weit geringerem Maß als dies bei guten Lesern der Fall ist. Die Kinder haben weiterhin auch bei bekanntem Lesematerial Schwierigkeiten und erzielen zu keinem der folgenden Zeitpunkte weniger als 5% Fehler. Da eine geringere Fehlerhäufigkeit als 5% für die erste Klasse als Maß angegeben wird, ab dem eine gewisse Selbständigkeit beim Lesen zu erwarten ist(Rupley und Blair 1983), kann angenommen werden, daß schwache Leser auch am Ende der ersten Klasse
34
nur im Unterricht oder mit Unterstützung durch die Eltern zum Lesen kommen werden.
Auf Grund der relativ kleinen Stichprobengröße war es nicht sinnvoll, in der statistischen Auswertung die Leseentwicklung der schwächsten Schüler getrennt zu betrachten. Die visuelle Analyse der Verlaufsdaten der 4 schwächsten Schüler zeigte aber, daß diese kleine Gruppe in noch extremerem Ausmaß von Anfang an in der Leseentwicklung zurückblieb.
Der erste Teil der Hypothese 1, daß die erste Phase der Leseentwicklung auch bei systematischer Einführung von Graphem-Phonem-Korrespondenzen in einem wortspezifischen Lesen besteht, kann auf Grund der Ergebnisse somit als bestätigt gelten. Der zweite Teil der Hypothese 1, daß die Schwierigkeiten leseschwacher Kinder überwiegend durch die ungenügende Beherrschung der phonologischen Rekodierung entstehen, ließ sich hingegen nur teilweise bestätigen. Es muß vielmehr davon ausgegangen werden, daß leseschwache Kinder von Anfang an auch Probleme beim Behalten wortspezifischer Schriftbildinformationen haben. Bei diesen Kindern ist also nicht nur der indirekte, sondern auch der direkte Zugang zur Wortbedeutung beim Lesen erschwert.
Die zweite Hypothese, daß die Lesefähigkeit zu Beginn in starkem Ausmaß kontextspezifisch ist, daß also Wörter oft nur in dem Kontext erkannt werden, in dem sie bereits gelesen wurden, ließ sich für die Lesesicherheit eindeutig bestätigen. Die Lesegeschwindigkeit erwies sich jedoch während des ganzen ersten Schuljahres als abhängig davon, daß die Kinder die Texte bereits gelesen und geübt hatten. Schwache Leser stützen sich, wie die Ergebnisse zeigen, noch mehr als gute Leser auf Kontextinformationen und helfen sich, indem sie die gelesenen Phrasen aus dem Gedächtnis reproduzieren. Ein eindeutiger Vorteil der Vorgabe von Sätzen gegenüber Listen ließ sich bedingt duch die fixe Reihenfolge der Aufgabenstellung, bei der die gleichen Wörter zunächst immer in Sätzen und dann erst in Listen zu lesen waren,
nicht nachweisen.
Die Ausbildung der Lesegeschwindigkeit ist an die Entwicklung von Lesesicherheit gebunden. Dies unterstützt unsere dritte Hypothese. Erst wenn Texte einige Zeit mit hinreichender Sicherheit gelesen werden, kann sich Geläufigkeit beim Lesen herausbilden. Die erste Phase der Leseentwicklung dient also hauptsächlich dem Erwerb von Lesesicherheit. Während der ersten drei Testzeitpunkte kommt es zwar zu einer stetigen Zunahme der Lesegeschwindigkeit von einem Testzeitpunkt zum anderen, ohne daß allerdings in einem der geprüften Bereiche geläufiges Lesen beobachtet werden kann. Erst gegen Ende des Schuljahres(zum vierten und fünften Testzeitpunkt) werden bekannte Texte geläufig gelesen. Eine gewisse Automatizität in der Worterkennung wird also erst in der zweiten Hälfte des Schuljahres erreicht und auch hier nur für bekannte Wörter. Neue Wörter werden auch am Ende des Schuljahres in keiner der geprüften Bedingungen geläufig gelesen, ebensowenig Pseudowörter. Kinder haben die Fähigkeit des Erlesens allein aufgrund der Kenntnis der Buchstaben-Lautzuordnungen am Ende der ersten Klasse noch lange nicht soweit automatisiert, daß das Lesen relativ rasch erfolgen könnte.
Leseschwache Kinder bleiben in der Lesegeschwindigkeit von Anfang an hinter guten Lesern zurück, wobei sich die Unterschiede in den Lesezeiten bis zum Schulschluß eher vergrößern. Es kommt zu einem allmählichen Ausbleiben von Automatizität in der Worterkennung. Während gute Leser am Ende des Jahres Geläufigkeit beim Lesen von bekannten Wörtern erreicht haben, gelingt dies schwachen Lesern nur bei bekannten Texten, nicht aber, wenn der vertraute Kontext fehlt.
Gute Leser zeigen beim Lesen von neuen Wörtern gegen Ende des Jahres eine Annäherung der Lesegeschwindigkeit an bekannte Wörter, während Pseudowörter deutlich langsamer gelesen werden. Leseschwache Kinder hingegen lesen neue Wörter annähernd gleich langsam wie Pseudowörter.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1988