Temperamentsmerkmale retardierter Kleinkinder
Von Klaus Sarimski und Peter K. Warndorf
Die Temperamentsmerkmale von 25 behinderten Kindern mit unterschiedlichen neuropädiatrischen Diagnosen werden mit einer deutschen Fassung des Infant Behavior Questionnaire untersucht. Im Vergleich zu Kindern mit Down-Syndrom und nicht-behinderten Kindern finden sich nur Unterschiede in den Dimensionen Aktivitätsniveau und Furcht vor neuen Reizen. Die Einschätzungen der Kinder sind weitgehend unabhängig von ihrem kognitiven Entwicklungsstand und interindividuell sehr verschieden. Um vorschnell generalisierende Annahmen über Verhaltensmerkmale behinderter Kinder zu vermeiden, ist eine einzelfallorientierte Diagnostik zu empfehlen.
Parents of 25 young handicapped children completed the Infant Behavior Questionnaire. The data were compared to temperament ratings of Down syndrome and normal infants. Differences were found only on two temperamental dimensions, more specifically, activity level and fear. There were only few relationships between temperament and cognitive performance. The results suggest caution in not overgeneralizing about differences between handicapped and normal children.
Jeder, der einmal eine Stunde auf einer Neugeborenen-Station zugebracht hat, ist mit den individuellen Eigenarten vertraut, durch die sich Kinder schon in ihren ersten Lebenstagen voneinander unterscheiden. Die neuere Forschung zu der Art dieser Temperamentsmerkmale und ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Kindes begann vor rund 25 Jahren mit der New Yorker Längsschnittstudie von Thomas& Chess(u. a. 1977). Das Interesse an diesem Bereich der Entwicklungspsychologie der frühen Kindheit hat merklich zugenommen, seit Eltern-Kind-Beziehungen nicht mehr eindimensional als Wirkung des Verhaltens der Bezugspersonen auf das Kind, sondern als Wechselwirkung zwischen Verhaltensmerkmalen des Kindes und jenen der Eltern untersucht werden. Dabei hat sich gezeigt, wie wichtig das Gelingen der Abstimmung von Eltern und Kind aufeinander ist für eine günstige kognitive und soziale Entwicklung.
Untersuchung von Temperamentsmerkmalen
Über die Konzepte und die Operationalisierung des Konstruktes„Temperament” herrschen noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten, zumindest was das frühe Lebensalter angeht. Den verschiedenen Definitionsversuchen ist gemeinsam, daß es um stabile, individuelle Eigenarten geht in Ausprägungen von Verhaltensmerkmalen der Emotionalität und Aktivität, soweit sie die Organisation intra- und interindividueller Prozesse betreffen und kontextübergreifend wirken(Campos et al 1983). Ebenso werden die Untersuchungsverfahren kontrovers diskutiert, mit denen Temperamentsmerkmale beurteilt werden. Prinzipiell sind dazu Fragebogen geeignet, die die Eltern ausfüllen, Interaktionsbeobachtungen im häuslichen Rahmen und experimentelle Untersuchungen im psychologischen Labor. Rothbart& Goldsmith(1985) geben einen Überblick über Vor- und Nachteile der drei Ansätze. Fragebogen haben die weiteste
Verbreitung erreicht und werden auch in der hier vorgelegten Studie verwendet. Daher sollen nur sie näher erläutert werden.
Im allgemeinen werden die Eltern in diesen Fragebogen gebeten, Häufigkeit und Intensität von Verhaltensmustern des Kindes auf einer mehrstufigen Skala zu beurteilen. In den Instruktionen ist der Beurteilungskontext mehr oder weniger genau vorgegeben. Die Fragebogen haben den Vorteil, hinsichtlich Durchführung und Auswertung ökonomisch zu sein und sich auf die alltäglichen Gegebenheiten zu beziehen. Ihre Problematik liegt darin, daß die Beurteilung der Verhaltensweisen beeinflußt wird von Persönlichkeitsmerkmalen der Eltern; das objektiv gleiche Annäherungsverhalten an neue Stituationen mag von ängstlichen und unsicheren Eltern ganz anders eingeschätzt werden als von selbstsicheren Eltern. Zudem hängt die Häufigkeit bestimmter Verhaltensmuster untrennbar von der Häufigkeit ab, mit der sie von den Eltern ausgelöst werden; ein Kind wird kaum oft lächeln und
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 1, 1988