Klaus Sarinski und Peter K. Warndorf: Temperamentsmerkmale retardierter Kleinkinder
lachen, wenn es keine Freude im Gesicht seines Gegenübers entdeckt. Formale Faktoren wie Gedächtniseffekte, Orientierung der Antworten an sozialer Erwünschtheit oder an impliziten Vergleichsgruppen kommen hinzu. Dennoch wäre es falsch anzunehmen, daß Temperamentseinschätzungen rein subjektiv seien. Bates& Bayles(1984) wiesen nach, daß sie durchaus zu gewissen Anteilen aus objektiven Daten wie familiärem Hintergrund und häuslichen Beobachtungen durch unabhängige Beurteiler vorherzusagen sind.
Die einzelnen Verfahren unterscheiden sich in ihrer Konstruktion, psychometrischen Güte und Tauglichkeit für bestimmte Fragestellungen(Hubert et al 1982). Aus den theoretischen Modellvorstellungen von Thomas& Chess (1977) wurden von der Arbeitsgruppe um Carey Fragebogen für verschiedene Altersgruppen entwickelt, u.a. der„Infant Temperament Questionnaire”(revidierte Fassung: Carey& McDevitt 1978). Die interne Konsistenz der neun Temperamentsdimensionen und die diskriminative Validität dieses Instruments gelten aber als fragwürdig. Bates et al (1979) legten den„Infant Characteristics Questionnaire” vor, der insbesondere auf die Erfassung„schwieriger” Säuglinge und Kleinkinder abzielt; Rothbart (1981) entwickelte den„Infant Behavior Questionnaire”, bei dem sechs Merkmalsbereiche unterschieden werden. Die Items der beiden letztgenannten Verfahren wurden nicht nach einer vorgefaßten Modellvorstellung gruppiert, sondern nach dem Ergebnis von Faktorenanalysen.
Der„Infant Behavior Questionnaire” zeichnet sich dadurch aus, daß die Verfasserin bemüht war, den Beurteilungskontext und-zeitraum genau festzulegen, die Einschätzung an die Häufigkeit konkret beobachtbarer Verhaltensweisen zu knüpfen und Überlappungen zwischen den einzelnen Dimensionen zu vermeiden. Befriedigende interne Konsistenzen ließen sich ermitteln für die Dimensionen allgemeine Aktivität, Lächeln und Lachen, Furcht vor neuen Reizen, Ärger bei Einschränkungen,
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1988
Orientierungsdauer und Leichtigkeit, mit der sich das Kind beruhigen läßt. Weitere Untersuchungen ergaben mittlere Übereinstimmungen der Beurteilungen eines Kindes sowohl zwischen beiden Elternteilen als auch zu Ergebnissen häuslicher Interaktionsbeobachtungen durch dritte Personen. Die Einschätzungen erwiesen sich als relativ stabil zu verschiedenen Zeitpunkten im ersten Lebensjahr. Bedenkt man, daß die Einschätzungen von subjektiven Fehlern beeinflußt sind und sich in einer dynamischen Wechselwirkung der Interaktion von Eltern und Kind verändern, so sprechen diese Ergebnisse durchaus für die Brauchbarkeit des„Infant Behavior Questionnaire” zur Bestimmung individueller Temperamentsmerkmale.
Die Beschäftigung mit Temperamentsmerkmalen ist von theoretischem wie praktischem Interesse. So sprechen einige Befunde dafür, daß sie zum besseren Verständnis der frühen kognitiven Entwicklung beitragen kann(Campos et al 1983). Beispielsweise untersuchten Peters-Martin und Wachs(1984) 60 Kinder mit sechs und zwölf Monaten mit dem „Infant Temperament Questionnaire” (Carey& McDevitt 1978) und den„Ordinalskalen zur sensomotorischen Entwicklung”(Uzgiris& Hunt 1975, Sarimski 1987 a). Sie fanden eine Reihe signifikanter Korrelationen, ohne allerdings ein klares Zusammenhangsmuster zeigen zu können. Am ehesten sind wohl Merkmale wie Interesse, Aufmerksamkeitsdauer, allgemeines Aktivitätsniveau und positive Grundeinstellung gegenüber Umweltreizen für die kognitive Entwicklung bedeutsam.
Andere Untersucher richteten sich auf die Sozialentwicklung und versuchten, die Zusammenhänge zwischen Temperamentsmerkmalen, der Qualität von Eltern-Kind-Interaktionen und der langfristigen Entwicklung von Verhaltensstörungen aufzuklären. Dazu wurden Kinder. beobachtet, die von ihren Eltern als schwierig eingestuft wurden. Diese Klassifikation wird allerdings von den Verfassern der einzelnen Fragebogen unterschiedlich verwendet, so daß die Ergebnisse nicht vergleichbar sind. Ca
rey benutzte dabei Merkmale wie negative Grundstimmung, geringe Annäherungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit an neue Reize, Bates et al(1979) allgemeine Unruhe, schlechte Beruhigbarkeit und häufiger, sehr intensiver Protest der Kinder. Inwieweit diese Temperamentsausprägungen mit einer niedrigen Sensitivität und Reaktionsbereitschaft der Mütter und Väter einhergehen, ist noch ungeklärt(Milliones 1978, Campbell 1979, Vaughn et al 1981). Immerhin konnten Lee& Bates(1985) bei zweijährigen Kindern ihre Hypothese bestätigen, daß zwischen Kindern, die bereits im Säuglingsalter als schwierig klassifiziert worden sind, und ihren Müttern häufiger Konflikte entstehen, sie den Lenkungsversuchen der Mütter öfter Widerstand entgegensetzen und diese wiederum häufiger stark eingreifende Kontrollstrategien verwenden. Darüberhinaus fanden sich prädiktive Zusammenhänge zu Ängstlichkeit und aggressiven Verhaltensstörungen im Alter von drei Jahren(Bates et al 1985).
Temperamentsmerkmale behinderter Kinder
Solche prognostischen Aussagemöglichkeiten wären gerade bei entwicklungsgestörten Kindern für die Praxis besonders hilfreich, denn es ist bekannt, daß ihre Reaktionsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit mitentscheidend ist für das Gelingen harmonischer Eltern-Kind-Interaktionen und eine günstige Sozialentwicklung. Die vorliegenden Studien zu Temperamentsmerkmalen bei geistig retardierten Kindern beziehen sich allerdings zum großen Teil auf Kinder mit Down-Syndrom; das wohl deshalb, weil diese Behinderung gut beschrieben ist und früh erkannt werden kann und in der älteren Literatur diesen Kindern ein besonderes Persönlichkeitsstereotyp (freundlich, einfach zu lenken, gefällig)
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