Klaus Sarimski und Peter K. Warndorf: Temperamentsmerkmale retardierter Kleinkinder
zugeordnet wurde, das zur Überprüfung reizte.
Rothbart& Hanson(1983) verglichen die Temperamentseinschätzungen, die Eltern von fünfzehn Kindern mit DownSyndrom im„Infant Behavior Questionnaire” mit sechs, neun und zwölf Monaten vornahmen, mit denen einer Stichprobe gesunder Kinder. Sie wurden in ihrer motorischen Entwicklung und der Häufigkeit des Lautierens, aber auch in der Häufigkeit des Lächelns und Lachens niedriger eingestuft. Ängstlichkeit war stärker ausgeprägt, die visuelle Orientierung auf einen Reiz länger; für das Aktivitätsniveau, die Toleranz für Einschränkungen und die Leichtigkeit, mit der die Kinder zu beruhigen waren, fanden sich keine Unterschiede. Die ersten Auffälligkeiten sind als Ausdruck der allgemeinen Retardierung der Kinder zu verstehen. Selteneres positives affektives Ausdrucksverhalten und eine geringere Bereitschaft, sich Neuem zu nähern, dürften besondere Schwierigkeiten für die Eltern bedeuten, an die sie sich anpassen müssen, um harmonische und befriedigende Interaktionen entstehen zu lassen.
Bridges& Cicchetti(1982) kamen bei der Verwendung des Carey-Fragebogens zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Sie vermuteten, daß das verminderte affektive Ausdrucksverhalten die Beurteilung durch die Mütter am stärksten beeinflußte, sie deshalb den Eindruck hatten, daß das Kind wenig Interesse an seiner Umwelt habe, und sich in verstärktem Maße um seine Anregung bemühten. Aus den vorliegenden Studien(vgl. auch Gunn et al. 1981) läßt sich jedenfalls weder das positive Persönlichkeitsstereotyp von Kindern mit Down-Syndrom bestätigen noch die gegenteilige Annahme, daß die Kinder von ihren Eltern als gänzlich anders oder schwieriger im Vergleich zu nichtbehinderten Kindern erlebt werden.
In heterogenen Stichproben behinderter Kinder wurde bisher ausschließlich der „Infant Temperament Questionnaire” (Carey& McDevitt 1978) eingesetzt. Heffernan et al.(1982) berichteten über ihre Ergebnisse bei 57 Kindern mit un
54
terschiedlichen neuropädiatrischen Diagnosen(u. a. Cerebralparese, Anfallsleiden, Down-Syndrom). Die Gesamtgruppe unterschied sich von nicht-behinderten Kindern durch ein niedrigeres Aktivitätsniveau, kürzere Aufmerksamkeitsspannen, geringere Bereitschaft zur Annäherung an neue Reize und eine höhere Reizgrenze. Weder fanden sich spezifische Besonderheiten bei Kindern mit Down-Syndrom noch wurden mehr Kinder als in der Normalpopulation als schwierig eingeschätzt. Greenberg& Field(1982) kamen für Kinder mit Down-Syndrom und Kinder mit allgemeinem Entwicklungsrückstand zum gleichen Ergebnis, während Kinder mit Cerebralparesen oder einer Hör- bzw. Sehschädigung häufiger als schwierig erlebt wurden. Van Tassel(1984) beschränkte sich auf Kinder mit leichtem Entwicklungsrückstand und fand nur bei der Reaktion auf neue Reize und der allgemeinen Stimmung Abweichungen zu ungunsten der retardierten Kinder. Sie seien unruhiger, leichter irritierbar und zeigten größere Schwierigkeiten, mit Reizangeboten umzugehen, die für gesunde Kinder optimalen Anregungsgehalt haben. Dieses Bild entspricht den Beobachtungen bei frühgeborenen Kindern mit perinatalen Komplikationen (Field 1980), während Kinder, die ohne weitere Probleme vor dem errechneten Termin zur Welt kamen, im allgemeinen nicht als schwierig erlebt werden (Oberklaid et al. 1985).
Beim gegenwärtigen Stand der Forschung zu Temperamentsmerkmalen behinderter Kinder bleiben noch zahlreiche Fragen offen. Individuelle Eigenarten in Ausprägungen von Verhaltensmerkmalen der Emotionalität und Aktivität konnten für zwei Teilgruppen entwicklungsverzögerter Kinder repliziert werden, nämlich für leicht retardierte, frühgeborene Kinder und Kinder mit Down-Syndrom. Diese Ergebnisse erlauben jedoch keine Generalisierung auf geistig behinderte Kinder insgesamt. Die beiden Studien, die sich mit einem breiteren Spektrum von Behinderungen befaßten(Heffernan et al. 1982, Greenberg& Field 1982), verwendeten sehr
heterogene und unzureichend beschriebene Stichproben. Zudem benutzten sie den von Carey entwickelten Fragebogen, für den schon bei gesunden Kindern Zweifel an der Konsistenz der a priori gesetzten Verhaltensdimensionen und an der Brauchbarkeit des Kriteriums für die Einordnung als schwierig(Extremwerte in einer bestimmten Zahl von Unterskalen) angemeldet wurden. Zusammenhänge zum Verlauf der kognitiven und sozialen Entwicklung sind bei behinderten Kindern bisher nicht untersucht worden. Bei den vorliegenden Studien fehlen nähere Angaben zum Entwicklungsstand, zu beobachteten Merkmalen der Interaktion mit den Bezugspersonen und zum weiteren Verlauf der sozialen Anpassung.
Für die vorliegende Studie beschränken wir uns auf zwei Fragen, die wir auf der Grundlage der Befragung von 25 Müttern behinderter Kinder mit dem„Infant Behavior Questionnaire” erörtern wollen: Beobachten sie auch an ihren Kindern individuelle Eigenarten der Emotionalität und Aktivität und lassen sich solche Temperamentsdimensionen relativ gut voneinander abgrenzen? Gibt es Unterschiede in der Ausprägung bestimmter Verhaltensmerkmale im Vergleich zu nicht-behinderten Kindern oder in Abhängigkeit vom Ausmaß der Entwicklungsverzögerung?
Stichprobe und Methode
Es wurden Temperamentsbeurteilungen von 25 Kindern mit unterschiedlichen neuropädiatrischen Diagnosen erhoben. Es handelt sich um Kinder, die binnen eines Jahres auf zwei Stationen der Klinik des Kinderzentrums München aufgenommen wurden. Die Zusammensetzung der Stichprobe ist heterogen hinsichtlich Alter, Vorstellungsgrund, medizinischer Diagnose und Schweregrad der Behinderung. Die Vorstellungsgründe reichten vom Wunsch nach einer ausführlichen medizinischpsychologischen Diagnose über die An
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1988