Klaus Sarimski und Peter K. Warndorf: Temperamentsmerkmale retardierter Kleinkinder
leitung in einer krankengymnastischen Behandlung oder Entwicklungstherapie bis zur Behandlung spezieller Verhaltensprobleme, z.B. von Störungen der Nahrungsaufnahme bei einigen behinderten Kleinkindern. Als neuropädiatrische Diagnose wurde am häufigsten eine mentale Behinderung nach frühkindlicher Hirnschädigung, spezielle Dysmorphiesyndrome, Anfallsleiden und zentrale Koordinationsstörungen, bzw. Cerebralparesen genannt. Für die Untersuchungen wurden alle Kinder berücksichtigt, deren kognitives Entwicklungsalter unter einem Jahr lag(x=7.2 Monate, s= 3.7 Monate) und deren Mütter zum Ausfüllen des Fragebogens zu Beginn des Aufenthalts bereit waren. Bei 20 Kindern wurde eine vollständige Untersuchung des kognitiven Entwicklungsstandes mit den Ordinalskalen zur sensomotorischen Entwicklung durchgeführt. Der mittlere kognitive Entwicklungsquotient der Kinder lag bei 42(s= 35), das durchschnittliche Alter bei 24.2 Monaten(s= 12.1 Monate).
Die Mütter füllten in den ersten Tagen der Aufnahme den„Infant Behavior Questionnaire”(Rothbart 1978) aus. Darin werden ihnen Verhaltensbeschreibungen vorgelegt. Sie werden gebeten, auf einer fünfstufigen Skala zu beurteilen, in welchem Maße diese für ihr Kind zutreffen. Jedes Item ist einer von sechs Temperamentsdimensionen zugeordnet: Aktivitätsniveau, Lächeln und Lachen, Frustrationstoleranz, Zurückhaltung vor neuen Reizen, Orientierungsdauer und Beruhigbarkeit. Für jede Dimension wird ein Mittelwert berechnet. Zum Vergleich stehen die Mittelwerte für 106 gesunde Kinder und neun Kinder mit Down-Syndrom im Alter von 12 Monaten zur Verfügung(Rothbart& Hanson 1983).
Außerdem wurde die kognitive Entwicklung der Kinder mit den„Ordinalskalen zur sensomotorischen Entwicklung” (Uzgiris& Hunt 1975, Sarimski 1987a) untersucht. Es handelt sich dabei um ein entwicklungsdiagnostisches Verfahren, das auf der Theorie Piagets zur Entwicklung der sensomotorischen Intelligenz beruht. In sechs weitgehend voneinan
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1/1988
der unabhängigen Skalen wird die Entwicklungshöhe in folgenden Fähigkeiten bestimmt: Objektpermanenz, Wahrnehmung von Mittel-Zweck-Verbindungen, Laut- und Gestenimitation, Wahrnehmung von Ursache-Wirkungs-Zusammhängen, Wahrnehmung räumlicher Zusammenhänge zwischen Objekten und Schemata im Spiel mit Gegenständen.
Es wurden Produkt-Moment-Korrelationen zwischen den individuellen Temperamentsbeurteilungen und zwischen diesen, den einzelnen Skalenwerten im Entwicklungstest sowie dem Lebensalter berechnet. Die Stichprobenvarianzen und Mittelwerte wurden mit den Daten der gesunden Kinder und der Kinder mit Down-Syndrom verglichen.
Ergebnisse
Die Tabelle 1 zeigt die Korrelationen der einzelnen Temperamentsdimensionen untereinander. Sieben von 15 Koeffizienten sind signifikant(p<.05). Positive Zusammenhänge werden festgestellt zwischen dem Aktivitätsniveau und dem Ausmaß von Ärger bei Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, aber auch der Häufigkeit des Lächelns und Lachens. Ärger bei Einschränkungen und Ängstlichkeit gegenüber neuen Reizen korrelieren miteinander, Ängstlichkeit und Orientierungsdauer sowie Orientierungsdauer, Häufigkeit des Lächelns
und Leichtigkeit, mit der sich ein Kind beruhigen läßt.
Im Vergleich zu nicht-behinderten Kindern wird im Durchschnitt das motorische Aktivitätsniveau von den Eltern dieser behinderten Kinder niedriger eingestuft. Ihre Furcht vor neuen Reizen beschreiben sie als höher. Gegenüber Kindern mit Down-Syndrom finden sich lediglich Unterschiede im Aktivitätsniveau(Tabelle 2). Insgesamt schätzen die von uns befragten Eltern die Temperamentseigenschaften ihrer Kinder kaum anders ein als Eltern gesunder Kinder. Die großen Standardabweichungen deuten allerdings auf eine erheblich größere Variationsbreite ihres Urteils hin; die Prüfung der Stichprobenvarianzen nach Fisher ergibt durchweg signifikante Quotienten.
Relativ wenig bedeutsame Zusammenhänge ergeben sich zwischen den Temperamentseinschätzungen und dem kognitiven Entwicklungsstand der Kinder. Sechs von acht signifikanten Korrelationen entfallen auf die Merkmale„Furcht vor neuen Reizen” und „Orientierungsdauer”. Kinder mit weiter fortgeschrittener Entwicklung in den kognitiven Kompetenzen der Objektpermanenz, der Mittel-Zweck-Wahrnehmung, der Wahrnehmung räumlicher Zusammenhänge und der Schemata im Umgang mit Objekten sind- nach der Einschätzung ihrer Mütter- furchtsamer gegenüber neuen Reizen und orientieren sich länger. Darüberhinaus korrelieren die Häufigkeit des Lächelns
Tab. 1: Interkorrelationen der Unterskalen des„Infant Behavior Questionnaire” bei 25 behinderten
Kindern.
N 1 Aktivitätsniveau(1) 25 Ärger bei 25 Einschränkungen(2) Furcht vor neuen 25 Reizen(3)
Orientierungsdauer(4) 25 Lächeln und Lachen(5) 25 Beruhigbarkeit(6) 25
*= signifikant auf dem 5%-Niveau **= signifikant auf dem 1%-Niveau
2 3 4 S 6 68 38.20 ‚54* 12 - SP Al 34 13 - 31" ‚40 19 -„60*„TI - ‚48*
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