F. Peterander
Familiäre Umwelt und die Entwicklung von Risikokindern
Interaktions- und Kommunikationsbedingungen, die den Kindern mehr oder weniger umfassende und differenzierte Kompetenzen zur Bewältigung von Aufgaben und Situationen vermitteln.
Das Interaktionssystem der Familie steht damit in engem Zusammenhang mit der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. Von daher gesehen wäre zu erwarten, daß die Wechselwirkung dieser Person-Umwelt-Interaktion in der ElternKind-Forschung eingehend untersucht worden ist. Dem ist leider nicht so. Während heute eine große Anzahl von Theorien und Ergebnissen zur Person, ihren Charakteristiken und Eigenschaften in den verschiedenen Stadien der Entwicklung verfügbar ist, finden sich im Hinblick auf die Umwelt eher nur statistische Beschreibungen der Bedingungen, die die Person umgeben. Der Prozeß des Austausches zwischen Person und Umwelt, der eine bestimmte Verhaltensäußerung erst entstehen läßt, sie aufrechterhält und modifiziert, bleibt häufig unberücksichtigt. Allenfalls in den letzten Jahren hat man diese entwicklungsbestimmenden Umwelt-Person-Prozesse eingehender beobachtet (Walter& Oerter 1979; Bronfenbrenner 1981).
Natürlich wird damit die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern als entwicklungsbestimmende Variable besonders hervorgehoben und bildet mehr denn je einen bevorzugten Gegenstand von Untersuchungen der unterschiedlichsten Art und Fragestellung. Denken wir nur an die rasante Entwicklung der Familientherapie(Cierpka 1987), der familiären Sozialisationsforschung(Maccoby& Martin 1983) und der Klinischen Psychologie(Hetherington& Martin 1979; Patterson 1982; Mash 1984; Jacob 1987).
Entwicklungsbedingungen von Risikokindern in der Familie
Während aufgrund der Ergebnisse der Deprivationsforschung(Pechstein 1974) lange Zeit die Vorstellung vorherrschte, die Beeinträchtigungen eines gehandi
capten Kindes seien durch stimulierende Maßnahmen therapeutisch zu beeinflussen, da ihre Ursachen in den medizinischen Bedingungen des Kindes lägen(Lilienthal& Parkhurst 1951), hat sich diese Sichtweise seitdem in Richtung auf eine verstärkte Berücksichtigung der das Kind umgebenden Bedingungen als Mitursache seiner Auffälligkeiten verändert (Schlack 1987).
Mit der Hinwendung zu einer bidirektionalen Betrachtung der Beeinflussung von Umwelt und Kind wurden in der Folge die Wirkungen bestimmter kindlicher Charakteristiken auf die Umwelt, d.h. auf seine Interaktionen mit Bezugspersonen, untersucht(Bell& Harper 1977). Vielfach beobachtete man, in welcher Weise individuelle Merkmale des Geschlechts des Kindes(Moss 1967, 1974), die Reihenfolge der Geburten in der Familie(Thoman et al. 1971), das Temperament(Carey 1972) oder die Reaktivität auf taktile, visuelle oder auditive Stimulationen(Brazelton et al. 1974) sich auf die Interaktionen auswirkten.
In diesem Zusammenhang stellte sich auch die Frage, auf welche Weise die Schädigungen der Kinder bei der Geburt ihre Interaktionen mit den Eltern beeinflussen(Mitchell 1976; Field 1980). Dabei untersuchte man zu Beginn in erster Linie auch so globale Statusvariablen wie soziale Schichtzugehörigkeit der Familien, elterliches Einkommen, Bildung, Beruf oder psychische Befindlichkeit— zumeist— der Mütter dieser Kinder (Bronfenbrenner& Crouter 1983). Die Auswirkungen dieser Umweltvariablen wurden oft einseitig hervorgehoben und ihren Beziehungen untereinander sowie auch eventuellen Multiplikationseffekten wurde nicht die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt. Neben vereinzelten vorausschauenden Studien haben sich vor allem Interventionsstudien mit Risikokindern mit den Prozeßvariablen der kindlichen Umwelt in wünschenswerter Weise auseinandergesetzt und die bislang geübte Ausgrenzung der Umwelt für die Ziele der Prävention und Therapie beendet.
Diese Studien mit Risikokindern haben in der Entwicklungspsychologie zu zwei
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 3, 1988
wesentlichen Veränderungen beigetragen. Zum einen fand eine Hinwendung von der Grundlagen- zur angewandten Forschung statt, und zum anderen verschob sich das allgemeine Interesse z.B. vom Prozeß der kognitiven Entwicklung oder der Differenzierung der Wahrnehmung in Richtung der vermehrten Untersuchung des Kontextes, in dem diese Entwicklungen vor sich gehen. Angesprochen ist demnach bei der Beurteilung der kindlichen Entwicklung in erster Linie das elterliche Erziehungsverhalten.
Für diese Annahme sprechen auch die Beobachtungen aus vielen Studien, daß eine große Anzahl von Kindern, die organisch beeinträchtigt sind, durchaus eine„normale“ Verhaltensentwicklung nehmen können. Voraussetzung für das Verständnis dieses scheinbaren Widerspruchs zwischen biologischem und verhaltensmäßigem„Funktionieren“ sind die Untersuchung der kompensierenden Aspekte der Erziehung sowie UmweltCharakteristiken, die es den Kindern trotz ihrer abweichenden biologischen Ausgangssituation ermöglichen, ein „normales“ Verhalten zu entwickeln.
Sameroff& Chandler(1975) erklären diese Beobachtung mit dem Wirken selbstkorrigierender Tendenzen, die z.B. im biologisch-embryonalen System zur Entwicklung eines physisch gesunden Babies führen. Nach der Geburt übernimmt diese selbstkorrigierende Funktion für eine psychisch gesunde Entwicklung des Kindes die erzieherische Umwelt. Sie wird wirksam durch gesellschaftliche Verhaltensnormen und kulturelle Traditionen.
Im Falle der Voraussage von Risiken für die Entwicklung des Kindes sind demnach seine individuellen Merkmale in Beziehung zu setzen zu den Bedingungen seiner Umwelt und von ihr in der Weise zu beeinflussen, daß sich das Kind entsprechend den Vorstellungen der Gemeinschaft entwickeln kann. Natürlich ist es nach Ansicht von Sameroff(1982) auch möglich, daß bei starken biologischen Beeinträchtigungen des Kindes Regulationsversuche durch die Umwelt ohne Wirkung bleiben und andererseits biologisch gesunde Säuglinge durch sie
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