F. Peterander+
Familiäre Umwelt und die Entwicklung von Risikokindern
nachhaltige psychologische Schädigungen erfahren.
Die von Werner et al.(1971) und von Werner& Smith(1977, 1982) durchgeführte Kauai-Studie erlaubt eine Beschreibung des Zusammenhangs zwischen den in der Person des Kindes liegenden Risikofaktoren und solchen seiner sozialen Umwelt. 670 Kinder wurden dort von ihrer Geburt bis zum Alter von 18 Jahren beobachtet und untersucht, wobei jeweils im Alter von 2, 10 und 18 Jahren diagnostische Untersuchungen durchgeführt wurden. Bei der Hälfte der hauptsächlich der sozialen Unterschicht angehörenden Kinder waren im Alter von 18 Jahren Lern- und Verhaltensprobleme feststellbar.
Die ersten beiden Publikationen(Werner et al. 1971; Werner& Smith 1977) halfen die oft geäußerte Hypothese zurückzuweisen, daß Geburtskomplikationen einen determinierenden Einfluß auf die Verhaltensentwicklung des Kindes haben. Bei Kindern mit schweren Geburtstraumata waren später häufig keine Defizite feststellbar, wenn sie nicht mit ungünstigen, einschränkenden Umweltbedingungen wie Armut, familiärer Instabilität oder mütterlichen Gesundheitsproblemen im Zusammenhang standen.
In der dritten Arbeit zur Kauai-Studie (Werner& Smith 1982) unterteilten die Autoren alle Kinder mit einem hohen klinischen Risiko im Alter von zwei Jahren in drei Gruppen:
— Kinder mit Problemen bis zum 10. Lebensjahr
— Kinder mit Problemen bis zum 18. Lebensjahr
— Kinder ohne Probleme.
Die letztgenannte Gruppe war das Ziel weiterer Analysen. Warum entwickelten diese Kinder keine Probleme? Welche Faktoren schützten sie davor? Die meisten der gefundenen Faktoren, die diese Kinder mit hohem klinischem Risiko vor der Ausprägung von Auffälligkeiten bewahrt haben, waren bereits bekannt:
— ausgeglichenes Temperament — günstige elterliche Erziehungshaltungen
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— wenige bzw. gar keine familiären Konflikte
— Kleine Familien
— geringe Belastungen durch stresshafte Lebensereignisse.
Was an diesen Ergebnissen überraschte, war die Vielzahl der möglichen Beziehungen zwischen den einzelnen Variablen und der Umfang der Analysen, die notwendig waren, um die die kindliche Entwicklung beeinflussenden Variablen herauszuarbeiten.
Die Kauai-Studie steht in Übereinstimmung mit den Ergebnissen einer Reihe anderer Arbeiten(Sameroff& Chandler 1975). Sie betonen die Bedeutsamkeit des sozioökonomischen Status und der psychischen Gesundheit der Familie als Moderatorvariablen für die kindliche Entwicklung. Beide stehen jedoch im Zusammenhang mit einer Vielzahl weiterer Fatoren, die ebenfalls auf die Entwicklung des Kindes einwirken. Um welche dieser Faktoren es sich dabei handelt, soll anhand von Ergebnissen von Studien erörtert werden, die das Verhalten von Risikokindern mit Anzeichen von MCD untersucht haben.
Sozioökonomischer Status der Eltern
Eine in nahezu allen Langzeitstudien festgestellte Einflußvariable für die Entwicklung von Kindern stellt der sozioökonomische Statuts(SÖS) der Eltern dar. Diese Variable wirkt ebenso auf die kindliche Entwicklung wie die individuellen Merkmale des Kindes, die dazu geführt haben, es als Risikokind einzuordnen.
So zeigten sich bei den erwähnten Follow-up-Studien von Werner et al.(1971) signifikante Beziehungen zwischen den Bedingungen des SÖS und vorgeburtlichen Komplikationen, die zu schwerwiegenden Defiziten bei den sozial am meisten benachteiligten Kindern führten. Die kurz- und langfristigen Auswirkungen des SÖS scheinen entscheidender auf die Verhaltensentwicklung zu wirken als die übrigen Effekte perinata
ler Komplikationen. Allerdings trifft dies auf eine kleine Gruppe von Kindern mit mittleren bzw. schweren perinatalen Stressbelastungen nicht zu.
Den Einfluß des SÖS bei der Geburt, vor dem und im Schulalter bei MCDKindern hat auch Broman(1977) dokumentieren können. Ein Vergleich der Leistungen von Kindern mit schwachen Lese-und Sprechleistungen mit leistungsmäßig erfolgreichen Kontrollkindern zeigte, daß die Indizes des SÖS vor der Geburt und im Alter von 7 Jahren stärker mit einer geringeren Leistungsfähigkeit zusammenhingen als Geburtskomplikationen und neurologisch geringe Auffälligkeiten im Alter von 7 Jahren. Studien mit Kindern in speziellen Förderprogrammen berichten über signifikante Zusammenhänge zwischen SÖS und zwei MCD-Symptomen: Hyperaktivität und Verhaltensprobleme. Unter 85 Kindern, die eine spezielle Schule für MCD-Kinder besuchten(Denhoff 1973), kamen die nicht hyperaktiven Kinder aus Familien mit einem höheren sozialen Status. Hyperaktive MCD-Kinder hatten Eltern einer niedrigeren sozialen Klasse, ein niedrigeres Geburtsgewicht und eine größere Anzahl emotionaler Probleme als nicht hyperaktive Gleichaltrige.
In mehreren Follow-up-Studien mit hyperaktiven MCD-Kindern wurden beim Erstkontakt keine signifikanten Unterschiede im Hinblick auf den SÖS gefunden. Ein niedriger SÖS war aber ein bedeutender Prädiktor für eine ungünstigere Entwicklung innerhalb der nächsten fünf Jahre(Minde et al. 1972).
In ähnlicher Weise fand Koppitz(1971) bei 177 lernbehinderten Kindern, daß der soziale Hintergrund der Kinder enger mit der schulischen Entwicklung der nächsten fünf Jahre zusammenhing als die Diagnose MCD.
Zwei Arbeiten, die sich mit dem Einfluß der sozialen Schicht auf die kindliche Entwicklung(Deutsch 1973) und den Sozialisationsprozeß(Hess 1970) beschäftigt haben, machen deutlich, daß soziale Schicht keine Einheitsvariable ist, sondern ein Zusammenwirken unterschiedlicher Einflußgrößen. Unter diesen Begriff fallen nicht nur struktu
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 3, 1988