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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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W.E. Fthenakis, R. Niesel& R. Oberndorfer ­

zur Zeit am Staatsinstitut für Frühpädagogik und Fa­milienforschung in München entwickelt und erprobt.

Die Bedeutung des Vaters in geschiedenen und wiederverheirateten Familien

Dabei stehen die Kompetenzen und Bedürfnisse aller

Es ist das Verdienst intensiver interna­tionaler Forschung der letzten zwanzig Jahre, die Bedeutung des Vaters im Le­ben eines Kindes und im Rahmen des fa­milialen Systems herausgearbeitet zu ha­ben(Fthenakis 1985a, b; Lamb 1981, 1987; Lamb& Sagi 1983). Hierbei wur­den sowohl traditionelle als auch nicht­traditionelle Familienformen(Fthenakis 1984, 1985a, b; Lamb 1982) und die in­terkulturelle Perspektive berücksichtigt (Lamb 1987). Von besonderem Interes­se erweisen sich Arbeiten, die sich mit der Situation des Vaters während und nach einer Scheidung befassen(vgl. Fthenakis 1985b). Sie konzentrieren sich schwerpunktmäßig auf die Proble­matik des nichtsorgeberechtigten Vaters, der die Beziehung zu seinem Kind im Rahmen einer Umgangsregelung gestal­ten muß, sowie auf die des sorgeberech­tigten Vaters, der die alleinige Zustän­digkeit für seine Kinder nach einer Scheidung übernimmt. Schließlich stel­len Studien zur Situation des Stiefvaters (vgl. Fthenakis 1985b) einen weiteren Schwerpunkt moderner Familienfor­schung dar. In allen diesen Bereichen konnte ähnlich wie bei vollständigen Familien eindrucksvoll belegt werden, wie wichtig der Vater für die Entwick­lung des Kindes und für das Funktionie­ren des gesamten Familiensystems ist.

Scheidung Ein beinah normatives Lebensereignis

Die Zahl der Väter, die infolge einer Ehescheidung die Beziehung zu ihren Kindern unter strukturell veränderten Bedingungen neu organisieren müssen, hat während der letzten zwanzig Jahre ständig zugenommen. Nach Angaben des Bundesinstituts für Bevölkerungsfor­schung hat sich die Zahl der geschiede­nen Ehen seit 1960 mehr als verdoppelt.

Im Jahre 1984 betrug die Zahl der Ehe­scheidungen 131.000. Etwa 100.000 minderjährige Kinder waren davon be­troffen. In über 80% der Fälle erhielt die Mutter das alleinige Sorgerecht und der Vater hatte sich mit der Rolle eines nichtsorgeberechtigten Elternteils abzu­finden. Über 1,5 Mio Kinder leben ge­genwärtig bei einem alleinerziehenden Elternteil, etwa 200.000 davon bei ei­nem alleinerziehenden Vater. Für die Vereinigten Staaten haben Furstenberg und Kollegen(1983) errechnet, daß et­wa ein Drittel bis ein Viertel aller ameri­kanischen Kinder bereits eine Scheidung hinter sich haben. Das BIB schätzt für 1982, daß von den 1955 geschlossenen Ehen bis dato etwa 12% geschieden sind. Die Prognose für die in den siebziger Jahren und danach geschlossenen Ehen beträgt etwa 27%.

Aufgrund seiner statistischen Häufigkeit und der zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz wird die Ehescheidung be­reits hin und wieder zu den normativen Ereignissen im Lebenszyklus gerechnet (vgl. z.B. Schneewind 1987). Ob norma­tiv oder nichtnormativ, beide Formen von Lebensereignissen sind kritische Ereignisse, die als Stressoren wirken und die Familie in krisenhafte Situationen bringen(wie z.B. auch die Geburt eines Kindes). Im System Familie wird ein Prozeß eingeleitet, der vereinfacht aus­gedrückt durch eine Destabilisierungs-, eine Bewältigungs- und eine Restabilisie­rungsphase beschrieben werden kann. Der Verlauf dieser Phasen wird von den Bewältigungsstrategienmitbestimmt, welche wiederum davon abhängen, über welche persönlichen, sozialen und mate­riellen Ressourcen der einzelne und die Familie verfügen(Fthenakis 1985b; Ulich et al. 1985). Damit ist nicht zu­letzt die Bedeutung von Beratungs- und anderen Hilfsangeboten angesprochen. Unter vergleichbaren Aspekten läßt sich auch das Ereignis der Wiederverheira­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 3, 1988

Mitglieder des familialen Systems im Mittelpunkt des Beratungsprozesses.

tung betrachten. Bei ca. 17% aller Ehe­schließungen im Jahre 1984 war ein Partner geschieden(oder verwitwet), bei weiteren 11% waren sogar beide Partner geschieden(bzw. verwitwet)(Braun& Proebsting 1986, 108). Während von den kinderlosen Geschiedenen insgesamt 90% wieder heiraten, gehen von den Ge­schiedenen mit Kindern etwa 40% eine neue Ehe ein. Insgesamt leben nach Scheidung und Wiederheirat eines sorge­berechtigten Elternteils 42% der Kinder aus geschiedenen Ehen mit einem leibli­chen und einem Stieftelternteil zusam­men; das waren nach dem letzten Mikro­zensus von 1982 etwa 240.000 oder 3% aller Minderjährigen in der Bundesrepu­blik Deutschland(Schwarz 1984). Zu be­denken ist aber, daß auch die zweite Ehe einem hohen Instabilitätsrisiko un­terliegt(vgl. dazu Heekerens 1987). Diese Daten belegen deutlich, daß ein ken ist aber, daß auch die zweite Ehe ei­nem hohen Instabilitätsrisiko unterliegt (vgl. dazu Heekerens 1987).

Diese Daten belegen deutlich, daß ein nicht zu unterschätzender Teil von Vä­tern die Beziehung zu seinen Kindern unter Bedingungen gestalten muß, die erheblich von den Bedingungen der tra­ditionell organisierten Familien abwei­chen. Die Relevanz dieser Tatsache of­fenbart sich dann, wenn man sich die Bedeutung des Vaters für die Entwick­lung des Kindes, gerade unter den Be­dingungen des kritischen Ereignisses ei­ner Elterntrennung vergegenwärtigt. Die Ergebnisse der Scheidungsforschung (ein Überblick findet sich bei Fthenakis, Niesel& Kunze 1982; Fthenakis 1985b) bestätigen die Richtigkeit einer system­orientierten Sichtweise der Familie auch im Prozeß der Ehescheidung. Dieser Sichtweise zufolge ist eine Ehescheidung nicht mit einer Auflösung der Familie gleichzusetzen, sondern als Neuorganisa­tion familialer Beziehungen unter sich verändernden Bedingungen zu verstehen.

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