Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
2
Einzelbild herunterladen

Ulrike Petermann: Sonderschulen für verhaltensgestörte Kinder

Tabelle 1: Sonderpädagogische Organisations­formen in der Schule(Speck1989).

1. Ambulante/Mobile Erziehungshilfen a. schulpsychologischer Dienst b. sonderpädagogischer Dienst c. sozialpädagogischer Dienst

2. Schulintegrierte Erziehungshilfen a. Unterrichtsintegrierte Förderung b. Förderunterricht Fördergruppen c. Pädagogisch-therapeutische Einzelhilfe d Kleinklassen

3. Zusätzliche außerschulische pädagogisch-the­rapeutische Einrichtungen

4. Sonderschulen a. Tagesschulen- Tagesheimschulen b. Heimschulen c. Klinikschulen d. Lernbehindertenschulen

2. Formale und inhaltliche Kriterien der Sonderschule für Erziehungshilfe

2.1 Sonderschule für Erziehungshilfe: Indikation und Störungsbild

Nach dem Beschluß der Kultusminister­konferenz vom 17.11.1977 wird sonder­pädagogische Hilfe notwendig,wenn die Symptome der Verhaltensstörung we­gen ihrer Vielfalt, ihrer Dauer, der Häu­figkeit ihres Auftretens oder wegen ihrer Intensität mit allgemeinen erzieherischen und unterrichtlichen Mitteln oder durch ambulante Hilfen nicht abgebaut werden können(S. 4). Ein weiteres Kriterium für die Einschulung in die Schule für Verhaltensgestörte sieht Helbig(1988) in der Gefährdung der Entwicklung des betroffenen Schülers oder seiner Mit­schüler. Eine durchschnittliche bis über­durchschnittliche Begabung des Schü­lers in Verbindung mit deutlichem Lei­stungsversagen ist Voraussetzung für die Aufnahme in die Schule für Verhal­tensgestörte(Helbig 1988). Dementspre­chend finden primär lern-, geistig- oder körperbehinderte Kinder keinen Eingang in die Verhaltensgestörten-Schule.

Petermann und Petermann(1992a) ver­wenden den Begriff,Verhaltensstörung synonym zur Bezeichnungunangemes­senes Sozialverhalten. Angesprochen werden damit beobachtbare Verhaltens­defizite in der Fähigkeit zur sozialen

2

Kompetenz, die sich in unangemessener, ungünstiger Form äußern und länger als ein halbes Jahr andauern(vgl. Petermann & Petermann 1992a; Petermann 1992). Verhaltensstörungen sind in der Regel übergreifender Natur. Sie betreffen den sozialen und emotionalen Bereich. Bei­spiele solcher Störungen sind überstei­gerte Aggressivität, unkontrollierte Ge­fühlsäußerungen oder ängstlicher Rück­zug. Weiterhin können sich Störungen im psychosomatischen oder psychomo­torischen sowie im Leistungsbereich manifestieren(Beschluß der Kultusmi­nisterkonferenz vom 17.11.1977). Nach Wiechardt(1978) stellt die Schulleistung eine wichtige Komponente des Selbst­konzepts dar. Entsprechend stellte Moser (1986) bei Lernbehinderten ein niedrige­res Selbstbild als bei Regelschülern fest. Diese Ergebnisse waren unabhängig vom Schultyp(separatives versus integratives Schulmodell). Bless(1989) konnte nach­weisen, daß Lernbehinderte in integra­tiven Schulformen eine niedrigere sozia­le Stellung besaßen als ihre nicht-behin­derten Mitschüler. Wichtige Ursache des Schulversagens ist mangelnde Lern­motivation(Sander 1988) ein häufiges Merkmal verhaltensgestörter Schüler (Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 17.11.1977; Saueressig 1987). Sie steht in Beziehung zu negativen Attri­butionsprozessen des betreffenden Schü­lers(Sander 1988).

2.2 Formale Kriterien der Sonderschule für Verhaltensgestörte

Kriterien zur Sonderschule für Verhal­tensgestörte können geordnet nach den Richtlinien der einzelnen Bundes­länder Tabelle 2 entnommen werden. Mit Ausnahme von Baden-Württemberg verfügen alle Bundesländer über Richt­linien für die Verhaltensgestörten-Schu­le. Zu beachten ist weiterhin, daß die einzelnen Bundesländer eine unterschied­liche Terminologie für die Schule für Verhaltensgestörte verwenden(vgl. Ta­belle 3).

In den meisten Bundesländern wird der Bildungsstand der Hauptschule angebo­

ten. Rheinland-Pfalz und Baden-Würt­temberg bieten zusätzlich die Möglich­keit an, im Rahmen der Verhaltensge­störten-Schule den Realschulabschluß ab­zulegen. Die Finanzierung der Schule für Verhaltensgestörte erfolgt häufig durch öffentliche Instanzen(Kreis, Stadt, Staat, kommunale Stellen) sowie über private Träger. Ist die Schule einem Heim ange­schlossen, wird die Finanzierung von dem Heimträger übernommen(vgl. Ta­belle 2). Die Schulen werden vorwie­gend als Halbtagesschulen geführt; teil­weise wird die Einführung der Ganzta­gesschule angestrebt(Neuburger 1990). In der Literatur wird das Konzept der Ganztagesschule präferiert(Herz 1988). Als Begründung wird angegeben, daß die Ganztagesschule mit ihrem erwei­terten Zeitangebot... der Forderung nach einem angemessenen therapeuti­schen Milieu am ehesten gerecht[wird] und... deshalb als insgesamt offenes Erziehungsfeld zu betrachten[ist], das dem schwierigen Kind die Möglichkeit gibt, in sinnvoller Ordnung und verläß­lichem Rhythmus zu einer Stabilisierung seiner zerstörten Persönlichkeit zu ge­langen(Helbig 1988, 70). Der Tagesab­lauf einer Ganztagesschule kann entspre­chend der Federbachschule gegliedert sein:Zwei Stunden Unterricht, 20 Mi­nuten Pause, zwei Stunden Unterricht, 50 Minuten Mittagspause, zwei Stunden Unterricht(Herz 1988, 675). Herz(1988) hält zu große Schulen, bei denen Schüler und Lehrer sich nicht gegenseitig ken­nen, für ungeeignet, da sie leicht un­überschaubar sind und Unsicherheit be­wirken. Die Klassenstärke sollte durch­schnittlich bei acht Kindern liegen und eine Anzahl von zehn Kindern nicht über­schreiten, da die Strukturierung des Un­terrichts beeinträchtigt würde. Ebenso sollte die Klassenstärke die Anzahl von acht Kindern nicht unterschreiten, dain sozialer Hinsicht nicht genügend Lern­möglichkeiten und-notwendigkeiten(S. 675) geboten werden können. Die in den Bundesländern übliche Klassenstärke für die Schule für Verhaltensgestörte(vgl. Tabelle 2) liegt meist unter bzw. über den von Herz(1988) vorgeschlagenen Richt­werten. Hinsichtlich der Versorgung der Schule für Verhaltensgestörte mit Lehr­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 1, 1993