werden muß. Über die Bedeutung der
Kenntnis der Einstellungsstrukturen von
Schulkindern bemerkt Esser(1975):„Die
Kenntnis der sozialen Beziehungen nicht
behinderter und körperbehinderter Kin
der untereinander erscheint wichtig, weil
Einflußnahme und Korrektur in der Zeit
der Reifung sicherlich eher möglich ist
als in dem verfestigten Rollen- und Normengefüge, das die soziale Welt der Erwachsenen bestimmt. Zudem bietet das
Schulalter die Möglichkeit, integrative
Formen des Zusammenlebens Behinder
ter und Nichtbehinderter im Rahmen von
Institutionen zu entwickeln und zu erpro
ben“(S. 2). Spezifische Ergebnisse zur
Frage, wie nichtbehinderte Kinder kör
perbehinderte Kinder sehen, können u.a.
aus folgenden empirischen Studien ab
geleitet werden: Esser(1975) berichtet von einer im Jahr 1968 durchgeführten
Untersuchung an 960 Kindern und Ju
gendlichen im Alter von sieben bis vier
zehn Jahren mit folgender Fragestellung:
„Wie sieht das nichtbehinderte Kind das
körperbehinderte Kind und welche Ein
stellungen und soziale Aktivitäten bestimmen das Verhalten des nichtbehinderten Kindes zum körperbehinderten
Kind“(Esser 1975, 3)? Als Ergebnisse
erbrachte diese Untersuchung u.a. fol
gende Erkenntnisse(Esser 1975; vgl. auch die Zusammenfassung bei Esser&
Jansen 1979):
— Körperbehinderte Kinder erscheinen in den Augen nichtbehinderter Kinder als psychisch und physisch labil. Behinderung und Krankheit werden häufig als verwandte Begriffe gleichgesetzt. Dieser Eindruck wird generalisiert und auf die psychische Verfassung übertragen.
— Der Eindruck der eingeschränkten Bewegungsfähigkeit führt im Leistungsbereich zu dem Eindruck körperlicher Ungeschicklichkeit bzw. Untüchtigkeit, wobei allerdings bei dem Behinderten besser ausgeprägte geistige Leistungen als kompensatorische Leistungen gesehen werden.
— Das Erziehungsmilieu in Elternhaus und Schule wird für Behinderte nachsichtiger und milder eingeschätzt, als für Nichtbehinderte.
— In den Kindergruppen gilt der Behin
Alfred Fries& Ralf Gollwitzer- Kinderantworten zur Körperbehindertenproblematik
derte als unterlegen und für Führungsrollen ungeeignet, in der Klassengemeinschaft wird er häufig als schwach integriert angesehen.
— Die Zuwendungsbereitschaft zu körperbehinderten Kindern ist nicht eindeutig zu beschreiben; das Maß der Zuwendungsbereitschaft zu körperbehinderten Kindern nimmt auch in dem Maße ab, wie mit der Zuwendung persönliche Verpflichtungen verbunden sind.
— Es zeigte sich durchgängig, daß jüngere Kinder bei Behinderten weniger das Behindertsein sehen und daß eine differenzierte Wahrnehmung der Behinderung und entsprechend differenzierte Meinungen und Einstellungen zu Behinderten erst bei älteren Kindern deutlich in Erscheinung treten.
Die Studie von Billings(1960; 1963, zit. bei Cloerkes 1979, 300) bei Schülern einer 1., 3. und 6. Klasse erscheint vor allem unter dem altersspezifischen Aspekt der Einstellungsbildung von Bedeutung. Billings konnte nachweisen, daß eine körperbehinderte im Vergleich zu einer nichtbehinderten Stimulusperson signifikant ungünstiger eingeschätzt wurde, zum anderen war aber auch eine altersspezifische Entwicklung dieser negativen Einstellung sichtbar: Zwischen den Schülern der 1. und der 3. Klasse bestanden erhebliche Einstellungsunterschiede, während die Schüler der 6. Klasse so urteilten, wie die Schüler der 3. Klasse. Ähnliche Ergebnisse wurden von Richardsonet. al.(1961; 1967); Goodmann et. al.(1963); Chigier& Chigier(1968) und Baier& Gebauer(1972; alle zuletzt genannnten Studien: vgl. Cloerkes 1979, 300) berichtet. Münzing(1970) folgerte aus ihrer Untersuchung, daß der Zeitraum für die Manifestation von negativ geprägten Einstellungen gegenüber Körperbehinderten bereits im Alter von acht bis zehn Jahren festzulegen sei.
Die Untersuchung
Zielsetzung der Untersuchung
Die vorliegende Untersuchung soll einen Beitrag zur Frage leisten, a) wie nichtbe
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 1, 1993
hinderte Grundschulkinder einer 1. bis 4. Grundschulklasse, die bislang noch keinen direkten Kontakt zu körperbehinderten Kindern hatten, über körperbehinderte Kinder hinsichtlich bestimmter Fragenkomplexe denken und b) über welches faktische Wissen sie zum Kom plex Behinderung und Körperbehinderung speziell verfügen.
Die Versuchspersonen
An der Untersuchung nahmen insgesamt 76 Schüler aus den vier Grundschulklassen einer Dorfschule teil. Es ergab sich folgende Klassen-, Alters-, und geschlechtsspezifische Verteilung:
Klassen Alter Geschlecht 1. Klasse(N=22) 5;9-6;9 8 männlich/ 14 weiblich 2. Klasse(N=17) 6;10-7;10 5 männlich/ 12 weiblich 3. Klasse(N=18) 7;9-9;6 7 männlich/ 11 weiblich 4. Klasse(N=19) 8;9-9;8 8 männlich/ 11 weiblich
Alle befragten Kinder waren evangelischen Glaubens. 24 Väter der Kinder waren Landwirte, wenn auch zum Teil nur im Nebenerwerb. Außer 4 Vätern (Arzt, Lehrer, Bankdirektor, Fabrikant) waren die übrigen Väter Arbeiter oder Angestellte.
Bis auf ein Kind(körperbehinderter Freund des Vaters kommt manchmal zu Besuch) hatten die restlichen Kinder noch keinen direkten Kontakt zu körperbehinderten Menschen. Das Thema„Behinderung“ war bis zum Zeitpunkt der Untersuchung im Unterricht der Kinder noch nicht erörtert worden.
Der Untersuchungsort
Die Grundschule befindet sich in einem bayerischen Dorf mit ca. 300 Einwohnern. Die Kinder kommen vorwiegend aus kleineren Nachbardörfern und besuchen diese Grundschule. In zwei Kilometer Entfernung liegt eine Stadt mit 10 000 Einwohnern.
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