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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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mehr nur als Resultat der funktionellen Bewegungsbeeinträchtigung sehen.

Die Fragen zur sozialen Interaktion(Fra­ge 7-9) wurden von allen Kindern insge­samt gesehen sehr positiv beantwortet: Ein hoher Prozentsatz der Kinder stimm­te der Frage zu, daß körperbehinderte Kinder nichtbehinderte Freunde haben (Frage 7), die meisten Kinder(in allen Klassen durchgängig über 80%) hätten nichts gegen den Besuch eines körperbe­hinderten Kindes einzuwenden(Frage 8) und eine überwiegend positive Tendenz ergibt sich aus den Antworten zu Frage 9: Wie ist es, wenn bei Euch nebenan ein körperbehindertes Kind einziehen wür­de. Daraus kann gefolgert werden, daß die nichtbehinderten Kinder einer Inter­aktion mit körperbehinderten Kindern, zumindest verbal, sehr aufgeschlossen gegenüber stehen. Zu bemerken ist, daß sich die Fragen zur sozialen Interaktion aber eher auf den privaten, außerschuli­schen Bereich der Kinder bezogen. Wie ist nun die Diskrepanz zu erklären, daß die Schüler körperbehinderte Kinder als Mitschüler anders beurteilen als in ihrem privaten Umfeld? Im privaten Umfeld haben die Kinder eher die Möglichkeit sich zurückzuziehen. Auch sehensie sich in ihrer Bereitschaft zum Kontakt mit Körperbehinderten mehr als Helfer und Wohltäter(z.B. antwortete ein Kind: Wenn ich mit der Hausaufgabe noch nicht fertig bin, dann muß ich der helfen, dann ist es vielleicht ein bißchen schwie­rig). In der Schule würden sie zum Kontakt eher gezwungen werden.

Die Literatur gibt dafür folgende Erklä­rung, indem sie zwei Ausprägungsrich­tungen der Zuwendungsbereitschaft auf­zeigt:Wohlwollendes Entgegenkom­men Oder Mitleid auf der einen und Zu­rückhaltung oder Ablehnung auf der an­deren Seite. Die Mitleidshaltung scheint nur bis zu einer gewissen Toleranz­schranke stabil zu bleiben, jenseits die­ser Schranke, nämlich mit zunehmender persönlicher Verpflichtung, wird sie ab­gebaut oder schlägt ins andere Extrem, die Ablehnung um(Esser& Jansen 1979, 495).

Zuden Antworten zu Frage 10(Die Frage lautete:Wie fühlst Du Dich, wenn Dir

Alfred Fries& Ralf Gollwitzer+ Kinderantworten zur Körperbehindertenproblematik

ein körperbehindertes Kind begegnet?) kann festgehalten werden: Die Kinder der 1. Klasse fühlen sich noch meistens gut odernormal, wenn sie einem körperbehinderten Kind begegnen. Ab der 2. Klasse aber fühlen sich die Kinder schon eheranders oderkomisch, ältere Kinder konnten bereits dieses sich anders fühlen besser umschreiben. Insgeamt ist ein Anstieg dessich anders Fühlens zu beobachten(1. Kl.: 18,18%; 2.Kl.: 29,41%; 3. Kl.: 38.88%; 4. Kl.: 52.6%).

Die Antworten zu Frage 10 berechtigen zur Annahme, daß sich Kinder vor allem mit fortschreitendem Alterdurch­aus der Existenz negativer Einschätzun­gen gegenüber körperbehinderten Kin­dern und der Ambivalenz ihrer eigenen Gefühle bewußt zu sein scheinen. Noch deutlicher wird dieser Aspekt um mögli­che gesellschaftsbedingte Ablehnungs­tendenzen behinderter Kinder durch die Antworten zu Frage 11(Du bist zu einem Geburtstag eingeladen und bringst ein körperbehindertes Kind mit zu dem Geburtstag. Was sagen die anderen Kin­der?): Sehr viele Kinder antizipierten ablehnende, teilweise sehr schroffe Re­aktionen der Umwelt(schaff das weg). Bei der 1. und 2. Klasse betraf diese Antizipation etwa ein Drittel der Kinder, in der 3. und 4. Klasse etwa die Hälfte der Kinder(1. Kl.: 36,36%; 2. Kl.: 29.41%; 3. Kl.: 55.5%; 4. Kl.: 52.6%). ­Vergleicht man die Prozentangaben zu Frage 10 und 11(siehe Tabelle 7), so ist die Antizipation der Ablehnung kör­perbehinderter Kinder durch andere Kin­der entweder größer oder gleich der Ab­lehnung durch eigene Gefühle. So darf man weniger von einer altersmäßigen Zunahme der ablehnenden Reaktionen sprechen, sondern eher von einer Akko­modation des Eigenerlebens an die Um­welt.

Ein direkter Zusammenhang zwischen den von den Kindern wahrgenommenen Einstellungen der Eltern und dem Ant­wortverhalten der Kinder konnte in die­ser Untersuchung zwar nicht hergestellt werden, da die meisten Kinder auf Frage 12(Wäre es deinen Eltern egal, wenn Du mit einem körperbehinderten spielen würdest?) mitegal antworteten.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 1, 1993

Daß die Eltern aber eine einstellungs­bildende Instanz sein können, wird deut­lich, wenn man zwei Kinder mit unter­schiedlichen Antworten auf Frage 12 herausgreift und sie in ihrem Ant­wortverhalten zu Frage 10 und 11 ver­gleicht:

Kind 9, Kl.: 3 zu Frage 12:Nein, laß das Kind.

Kind 9, Kl.: 3 zu Frage 11:Ich bin doof.

Kind 9, Kl.: 3 zu Frage 10:Schlecht, weil wenn man des sieht, dann wird es mir grausig.

Kind 11,Kl.: 2 zu Frage 12:Also, z.B. vielleicht sagen sie, daß sie fragen,was ich mit dem spielen soll, wie halt, als tät ein freund zu mir kommt, meine Mama ist halt auch dabei.

Kind 11, Kl.: 2 zu Frage 11:Vielleicht ganz normal. Da tät man halt wie bei einem anderen KindGrüß Gott sa­gen.

Kind 11, Kl.: 2 zu Frage 10:Ganz normal.

In der letzten Frage(Nr. 13) sollten sich die Kinder in die Gedankenwelt körper­behinderter Kinder hineinversetzen. Dies ergab für die Entwicklung von Einstel­lungen der untersuchten Kinder ein auf­schlußreiches Bild.

Wenn man die Tabellen 8-11 rückblik­kend betrachtet, fällt auf, daß sich die Vorstellungen der Schüler über die Ge­danken von körperbehinderten Kindern vonWeiß nicht überGesundheit/Be­hinderung zu einem Gleichgewicht von Gesundheit/Behinderung undFreun­de/Spielen erstrecken, bis letztendlich in der 4. KlasseFreunde undSpielen als wichtigste Gedanken erachtet wer­den. Offensichtlich ist das Alter von 9-10 Jahren der Altersabschnitt, in dem mög­liche Probleme um gesellschaftliche Zu­sammenhänge zwischen Behinderung und drohenden negativen Konsequenzen (im zwischenmenschlichen Bereich) ver­stärkt in das Bewußtsein treten und für die Situation des behinderten Menschen als bedeutsam antizipiert werden.

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