Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
30
Einzelbild herunterladen

Alfred Fries& Ralf Gollwitzer+ Kinderantworten zur Körperbehindertenproblematik

Abschließend soll noch einmal festgehalten werden:

Die Ergebnisse legen die Vermutung nahe, daß die meisten Kinder der vorlie­genden Untersuchung körperbehinder­ten Kindern noch nicht im Sinne eines bereits manifestierten, vorurteilshaften

Verhaltens begegnen. Einschränkende

Meinungen gegenüber körperbehinder­

ten Kindern beziehen sich hauptsächlich

auf deren funktionale Beeinträchtigungen

im kindlichen Spiel, nicht aber auf Di­

mensionen der Persönlichkeit oder des

Sozialverhaltens. Andererseits wieder ist

zu vermuten, daß die befragten Grund­

schulkinder durchaus die negative Ein­schätzung der Kinder durch die Umwelt bereits verinnerlichen, eine Einschätzung, die mit zunehmender Tragweite in die eigene Vorstellungswelt übernommen

worden ist. Belegen möchten wir die 0.a.

Einschätzungen durch folgende Fakten:

Das faktische Wissen über Behinde­rung steigt, aber die Wahrnehmung einerAndersartigkeit orientiert sich eher an funktionalen Beeinträchti­gungen.

Die Schulfähigkeit körperbehinderter Kinder wird mehrheitlich nicht ange­zweifelt. Die Kinder stehen der Inter­aktion mit körperbehinderten Kindern verbal aufgeschlossen gegenüber, aber ihre Beliebtheit im Klassenver­band wird eher geringer eingeschätzt.

Negative Einschätzungen des Eigen­erlebens und des Umweltverhaltens gegenüber körperbehinderten Kindern nehmen zu, je älter die Kinder wer­den. Negative Konsequenzen im zwi­schenmenschlichen Bereich des kör­perbehinderten Kindes werden im selben Maße antizipiert. Aber diese Zunahme scheint eher eine Akkom­modation auf bestehende und hin­zugewonnene Umwelterfahrungen zu sein.

Eindirekter Zusammenhang zwischen den von den Kindern wahrgenomme­nen Einstellungen der Eltern und dem Antwortverhalten kann nicht herge­stellt werden, aber dennoch ist dieser Zusammenhang durch die Antworten bestimmter Kinder nicht grundsätz­lich zu verneinen.

30

Bezüglich der Ergebnisse der vorliegen­den Untersuchung sollen noch einige Gedanken angeführt werden: Ausgehend von den Ergebnissen zum Thema: Antizipierte Gefühle gegenüber körperbehinderten Kindern und antizi­pierte Reaktionen der Umwelt, zeigt sich deutlich, daß eine harmonische, inte­grative Pädagogik nur greift, wenn ihre Wurzeln schon in einer integrativen Er­ziehung in den Kindergärten, also vor dem 6. Lebensjahr, liegen. Kron schreibt dazu:..., daß bei den Kindern tiefgrei­fende psychische Prozesse in Gang kom­men müssen, wenn sich die pädagogi­schen Zielvorstellungen realisieren sol­len(Kron 1988, 16).

Psychische Prozesse, die für ein Gelin­gen der Integration in einem gesamtge­sellschaftlichen Rahmen dienen sollen, sind natürlich nur ein Bestandteil dersel­ben, wenn auch ein wichtiger. Ein Erfolg kann sich demzufolge nur dann einstel­len, wenn das Lernen integrativer Ver­haltensweisen sich gleichzeitig mit der sozialen Reifung entwickelt. So kommt auch Esser in seiner Untersuchung(Es­ser 1975, 126) zu folgender Schlußfol­gerung:Je später nach dem 3. Lebens­jahr die Begegnung behinderter und nichtbehinderter Kinder gestaltet und ge­fördert wird, um so stärker ist der erwar­tete Lernerfolg durch Voreingenommen­heit und Distanz gefährdet.

Zu dem, was nun die Grundschule bei der Einstellungsbeeinflussung zu leisten ver­mag, äußerte sich Cloerkes(1979) eher pessimistisch. Seiner Meinung nach gibt es keinerlei Anzeichen dafür, daß die Schule in wenigen Jahren Einstellungen, die die Kinder bereits erworben haben, verringern oder abbauen kann.Eine einigermaßen reelle Chance für eine er­zieherische Einwirkung auf die Etablie­rung bestimmter Einstellungen gegen­über Behinderten besteht m.E. nur im Kindergarten- und Vorschulalter(Cloer­kes 1979, 303).

Cloerkes hat natürlich recht, wenn er sagt, daß die Schule allein mit dieser Aufgabe überfordert ist. Die Schule kann aber m.E. dann einen Beitrag in Richtung eines Abbaus von Vorurteilen leisten, wenn sie in ihren Bemühungen von Kindergarten und Elternhaus unterstützt

wird. Dies bezieht sich auch auf die Vermittlung faktischen Wissens über Behinderung mit dem Ziel der Ver­mittlung eines realistischeren Wissens. Es mutet fast unverständlich an, daß das ThemaBehinderung vor allem in Bayern nur in geringem Ausmaß Ein­gang in die Lehrpläne der Grundschulen gefunden hat und zum Thema verstärkter pädagogisch-didaktischer Bemühungen geworden ist.

Da, wie bereits erwähnt, die befragten Kinder dem Spiel einen hohen Stellenwert zukommenlassen, liegt der Gedanke nicht fern, gerade in der Grundschule über das Rollenspiel Einstellungen in eine be­stimmte Richtung zu lenken, bzw. be­reits bestehende Einstellung in der ge­wünschten Form zu verändern.

So äußerte sich schon Allport(1971): Wenn ein Kind die Rolle eines Fremd­gruppenkindes spielt, so lernt der ju­gendliche Schauspieler vielleicht durch seine eigenen körperlichen Empfindun­gen etwas von dem Unbehagen und der Abwehr, die durch Diskriminierung er­zeugt werden(Allport 1971, 489). Dies ist natürlich nur ein Weg,der unter den bestehenden Verhältnissen möglich ist. Die Themenbereiche: Behinderung, Situation behinderter Menschen, Vorur­teile gegenüber behinderten Menschen sind in neuerer Zeit auch verstärkt als Thema der realistischen Kinder- und Ju­gendliteratur vorzufinden, ohne jedoch so sind unsere Erfahrungen in Zusam­menhang mit einer gezielten Verwen­dung in der Schule beachtet zu werden. Nach Sahr haben Kinder- und Jugend­bücher zum ThemaBehindertsein dann eine größere Wirkung auf die Meinungs­bildung von Kindern, wenndas Nor­men- und Wertsystem offene Stellen auf­weist, zu denen die Erzieher ihren Stand­punkt noch nicht erklärt haben und zu denen die Kinder noch keine als Be­zugsrahmen dienenden Erfahrungsbei­spiele sammeln konnten(Sahr 1981, 59; vgl. auch Zimmermann 1981; Zimmer­mann 1982; Ziegenhirt 1984; Fries& Flottmeyer 1992).

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 1, 1993