Alfred Fries& Ralf Gollwitzer+ Kinderantworten zur Körperbehindertenproblematik
Abschließend soll noch einmal festgehalten werden:
Die Ergebnisse legen die Vermutung nahe, daß die meisten Kinder der vorliegenden Untersuchung körperbehinderten Kindern noch nicht im Sinne eines bereits manifestierten, vorurteilshaften
Verhaltens begegnen. Einschränkende
Meinungen gegenüber körperbehinder
ten Kindern beziehen sich hauptsächlich
auf deren funktionale Beeinträchtigungen
im kindlichen Spiel, nicht aber auf Di
mensionen der Persönlichkeit oder des
Sozialverhaltens. Andererseits wieder ist
zu vermuten, daß die befragten Grund
schulkinder durchaus die negative Einschätzung der Kinder durch die Umwelt bereits verinnerlichen, eine Einschätzung, die mit zunehmender Tragweite in die eigene Vorstellungswelt übernommen
worden ist. Belegen möchten wir die 0.a.
Einschätzungen durch folgende Fakten:
— Das faktische Wissen über Behinderung steigt, aber die Wahrnehmung einer„Andersartigkeit“ orientiert sich eher an funktionalen Beeinträchtigungen.
— Die Schulfähigkeit körperbehinderter Kinder wird mehrheitlich nicht angezweifelt. Die Kinder stehen der Interaktion mit körperbehinderten Kindern verbal aufgeschlossen gegenüber, aber ihre Beliebtheit im Klassenverband wird eher geringer eingeschätzt.
— Negative Einschätzungen des Eigenerlebens und des Umweltverhaltens gegenüber körperbehinderten Kindern nehmen zu, je älter die Kinder werden. Negative Konsequenzen im zwischenmenschlichen Bereich des körperbehinderten Kindes werden im selben Maße antizipiert. Aber diese Zunahme scheint eher eine Akkommodation auf bestehende und hinzugewonnene Umwelterfahrungen zu sein.
— Eindirekter Zusammenhang zwischen den von den Kindern wahrgenommenen Einstellungen der Eltern und dem Antwortverhalten kann nicht hergestellt werden, aber dennoch ist dieser Zusammenhang durch die Antworten bestimmter Kinder nicht grundsätzlich zu verneinen.
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Bezüglich der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung sollen noch einige Gedanken angeführt werden: Ausgehend von den Ergebnissen zum Thema: Antizipierte Gefühle gegenüber körperbehinderten Kindern und antizipierte Reaktionen der Umwelt, zeigt sich deutlich, daß eine harmonische, integrative Pädagogik nur greift, wenn ihre Wurzeln schon in einer integrativen Erziehung in den Kindergärten, also vor dem 6. Lebensjahr, liegen. Kron schreibt dazu:„..., daß bei den Kindern tiefgreifende psychische Prozesse in Gang kommen müssen, wenn sich die pädagogischen Zielvorstellungen realisieren sollen“(Kron 1988, 16).
Psychische Prozesse, die für ein Gelingen der Integration in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen dienen sollen, sind natürlich nur ein Bestandteil derselben, wenn auch ein wichtiger. Ein Erfolg kann sich demzufolge nur dann einstellen, wenn das Lernen integrativer Verhaltensweisen sich gleichzeitig mit der sozialen Reifung entwickelt. So kommt auch Esser in seiner Untersuchung(Esser 1975, 126) zu folgender Schlußfolgerung:„Je später nach dem 3. Lebensjahr die Begegnung behinderter und nichtbehinderter Kinder gestaltet und gefördert wird, um so stärker ist der erwartete Lernerfolg durch Voreingenommenheit und Distanz gefährdet.“
Zu dem, was nun die Grundschule bei der Einstellungsbeeinflussung zu leisten vermag, äußerte sich Cloerkes(1979) eher pessimistisch. Seiner Meinung nach gibt es keinerlei Anzeichen dafür, daß die Schule in wenigen Jahren Einstellungen, die die Kinder bereits erworben haben, verringern oder abbauen kann.„Eine einigermaßen reelle Chance für eine erzieherische Einwirkung auf die Etablierung bestimmter Einstellungen gegenüber Behinderten besteht m.E. nur im Kindergarten- und Vorschulalter“(Cloerkes 1979, 303).
Cloerkes hat natürlich recht, wenn er sagt, daß die Schule allein mit dieser Aufgabe überfordert ist. Die Schule kann aber m.E. dann einen Beitrag in Richtung eines Abbaus von Vorurteilen leisten, wenn sie in ihren Bemühungen von Kindergarten und Elternhaus unterstützt
wird. Dies bezieht sich auch auf die Vermittlung faktischen Wissens über „Behinderung“ mit dem Ziel der Vermittlung eines realistischeren Wissens. Es mutet fast unverständlich an, daß das Thema„Behinderung“— vor allem in Bayern— nur in geringem Ausmaß Eingang in die Lehrpläne der Grundschulen gefunden hat und zum Thema verstärkter pädagogisch-didaktischer Bemühungen geworden ist.
Da, wie bereits erwähnt, die befragten Kinder dem Spiel einen hohen Stellenwert zukommenlassen, liegt der Gedanke nicht fern, gerade in der Grundschule über das Rollenspiel Einstellungen in eine bestimmte Richtung zu lenken, bzw. bereits bestehende Einstellung in der gewünschten Form zu verändern.
So äußerte sich schon Allport(1971): „Wenn ein Kind die Rolle eines Fremdgruppenkindes spielt, so lernt der jugendliche Schauspieler vielleicht durch seine eigenen körperlichen Empfindungen etwas von dem Unbehagen und der Abwehr, die durch Diskriminierung erzeugt werden“(Allport 1971, 489). Dies ist natürlich nur ein Weg,der unter den bestehenden Verhältnissen möglich ist. Die Themenbereiche: Behinderung, Situation behinderter Menschen, Vorurteile gegenüber behinderten Menschen sind in neuerer Zeit auch verstärkt als Thema der realistischen Kinder- und Jugendliteratur vorzufinden, ohne jedoch— so sind unsere Erfahrungen— in Zusammenhang mit einer gezielten Verwendung in der Schule beachtet zu werden. Nach Sahr haben Kinder- und Jugendbücher zum Thema„Behindertsein‘“ dann eine größere Wirkung auf die Meinungsbildung von Kindern, wenn„das Normen- und Wertsystem offene Stellen aufweist, zu denen die Erzieher ihren Standpunkt noch nicht erklärt haben und zu denen die Kinder noch keine als Bezugsrahmen dienenden Erfahrungsbeispiele sammeln konnten“(Sahr 1981, 59; vgl. auch Zimmermann 1981; Zimmermann 1982; Ziegenhirt 1984; Fries& Flottmeyer 1992).
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 1, 1993