Annemarie Fritz& Reinhard Keller
Erweiterung oder Veränderung des Unterrichts mit zur Kompensation der kindlichen Entwicklungsbesonderheiten beizutragen.
Durch diese Aussage ermutigt und orientiert an den Entwicklungsrückständen der Kinder, haben wir versucht, ein Unterrichtskonzept zu entwickeln, das allgemein die Entwicklungsvoraussetzungen für schulisches Lernen schafft und darüber hinaus die Lernfähigkeit der Eingangsklasse festigt. Im einzelnen wurden folgende Ziele zum kognitiven, SOzialen und motivationalen Bereich formuliert:
Als Schwerpunkt im kognitiven Bereich wurde die Vermittlung von Planungsfähigkeit angestrebt(vgl. Fritz 1986; Fritz u.a. 1989), nach Sydow(1990) die wichtigste Kulturtechnik und ein bedeutsamer metakognitiver Prozeß. Planungsfähigkeit wurde dabei definiert als die Fähigkeit, sich gedanklich ein Ziel zu setzen, die Handlungsschritte zur Erreichung des Ziels in ihrer Abfolge zu„planen“ und die Handlungsausführung mit dem Plan zu vergleichen(Kontrollhandlung)(vgl. Galperin 1967). Weiter sollten die Kinder im spiel- und handlungsorientierten Unterricht praktisch-handelnd eine Fülle unmittelbarer Erfahrungen erwerben, die einerseits Kindern mit einem Defizit in diesem Bereich einen Ausgleich für fehlende unmittelbare Erfahrungsbildung gewähren soll und die andererseits als spezifisches schulisches Vorwissen dienen kann. In diesem Rahmen, d.h. bei der Ausführung praktischer Handlungen, sollten auch spezifische Problemlösefertigkeiten entdeckt und erprobt werden, die ausgehend vom praktischen Handeln im allgemeinen Unterricht auch auf abstraktere Denkebenen übertragen werden können.
Nach einer Untersuchung von Petillon (1992) ist für Erstkläßler das Kennenlernen der Mitschüler das wichtigste Thema aus dem Sozialbereich. Bereits nach wenigen Wochen der Kontaktsuche und Klärung von Rangordnungen beginnt eine „erste Institutionalisierung“ sozialer Rollen und Beziehungen, die sich im Laufe der ersten beiden Schuljahre verfestigt. Als zweites Förderziel haben wir daher den„Aufbau sozialer Kompetenz“ ge
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wählt, um entwicklungsverzögerte Kinder nicht frühzeitig in Außenseiterrollen zu drängen und bei allen Kindern die Voraussetzungen zu schaffen, gleichwertige Beziehungen miteinander aufzunehmen. Sozialkompetentes Handeln soll vor allem dadurch aufgebaut werden, daß die Kinder lernen, sich sprachlich auszutauschen, die Perspektive anderer zu verstehen, auch in Gruppen Bedürfnisse zu äußern und die Bedürfnisse anderer zu akzeptieren. Besonders wichtig schien uns außerdem die Vermittlung einer Konfliktfähigkeit, die dadurch eingeübt oder verbessert werden sollte, daß die Kinder in für sie sozial relevanten Situationen lernen, Konflikte auszuhalten und auszutragen.
Da manche Kinder bereits nach einigen Tagen oder Wochen enttäuschenden Schulanfangs die Freude an der Schule verloren haben, andere nach anfänglichen Mißerfolgen in der Schule keine Anstrengungsbereitschaft mehr für die Schule aufbauen können, gehört auch die Vermittlung einer allgemeinen Schulzufriedenheit und der Aufbau einer erfolgszuversichtlichen und anstrengungsbereiten Leistungsmotivation zu unseren Förderzielen.
Zur Konzeption des spielund handlungsorientierten Unterrichts
Warum spielorientierter Unterricht?
Um Kinder mit Entwicklungsverzögerungen auf schulisches Lernen vorzubereiten, einen Ausgleich für fehlende Entwicklungserfahrungen zu schaffen und zugleich eine Brücke zu schlagen zwischen der Lebenswirklichkeit der Kinder in der Vorschulzeit und der neuen Schulwirklichkeit, haben wir ein Unterrichtskonzept entwickelt, in dem wir tätigkeitstheoretisch orientiert auf der der Lernfähigkeit vorausgehenden Entwicklungsstufe, der Spieltätigkeit(vgl. Jantzen 1987; Kornmann 1991) angesetzt haben. Im Sinne der tätigkeitstheoretisch orientierten Literatur wird das Spiel dabei als Symbol-, Bau- und Konstruk
Entwicklungsförderung in einem spiel- und handlungsorientierten Unterricht
tionsspiel verstanden(vgl. Oerter 1987; Kornmann 1991).
Die Bedeutung des Symbol- bzw. Rollen- oder Phantasiespiels wird vor allem darin gesehen, daß diese Spielform es den Kindern ermöglicht, sich in einer „Als-ob-Welt“ mit der gegenständlichen Umwelt auseinanderzusetzen, mit realen oder fiktiven„Als-ob-Gegenständen“ gedachte Handlungen auszuführen, Rollen anderer einzunehmen und unterschiedliche Perspektiven zu erproben. Das Symbolspiel ist nach Einsiedler (1991) der erste gangbare Weg,„sich mit Zeichen auseinanderzusetzen, die Bedeutung von Gegenständen abzulösen, also Abstraktionen vorzunehmen. Das Symbolspiel ist so gesehen der Vorläufer des abstrakten, systematischen und institutionalisierten Lernens“(S. 35f). Ein weiteres Merkmal der symbolischen Spieltätigkeit sehen Bruner(1976) und Oerter(1985) in der Sequentierung, d.h. der Fähigkeit, die Abfolge komplexer Handlungsschemata gedanklich vorwegzunehmen, in einzelne Handlungsschritte zu unterteilen und so sinnvolle Handlungssequenzen zu bilden. Den Aspekt der Handlungsplanung betont auch Kornmann(1991, 190), wenn er hervorhebt, daß die Kinder durch das Nachspielen imaginierter Ereignisse„ein autonomes System zur Planung und Kontrolle eigener Handlungen... erwerben. Themen, die in den Phantasiespielen „durchgespielt“ werden, betreffen die in der Kultur typischen Handlungsmuster, Lebensformen der Erwachsenen, so wie sie von den Kindern antizipiert werden (vgl. Einsiedler 1991), und die Erlebnisse und Vorstellungen, die die kindliche Phantasie besonders beschäftigen. Durch das Nachspielen derartiger Handlungsmuster wird einerseits das adaptive Verhaltensrepertoire der Kinder erweitert, andererseits werden neue Reaktionsweisen produziert und erprobt(vgl. Sutton-Smith 1978).
Eng verbunden mit dem Phantasiespiel ist das Bauspiel. Während das Symbolspiel stärker an den subjektiven Bedeutungen orientiert ist, zielt das Bauspiel auf die Vergegenständlichung, d.h. die Herstellung eines Produkts ab. Die Kinder machen die Erfahrung, selbst
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 1, 1993