Denken und Lernen bei Lernbehinderten: Fördert das Training des induktiven Denkens schulisches Lernen?
Von Karl Josef Klauer
In zwei Experimenten bei 14-17jährigen lernbehinderten Jugendlichen aus Abschlußklassen von Sonderschulen ging es darum zu prüfen, ob ein Training des induktiven Denkens das Lernen bei einem mathematischen Lehrstoff fördert. Im Zusammenhang mit anderen Untersuchungen können folgende Schlußfolgerungen gezogen werden. 1) Das Denktraining fördert die Leistung bei Intelligenztests. 2) Dieser Effekt ist auch noch nach Monaten nachweisbar. 3) Nicht nur die Leistungen, sondern auch die Lösungsprozesse der Probanden werden durch das Training beeinflußt. 4) Das Training fördert schulisches Lernen. 5) Unerwartet ist der Effekt des Trainings auf das Lernen größer als auf die Intelligenz. 6) Es gibt sogar mit der Zeit ansteigende Transfereffekte.
Die Befunde werden im Rahmen einer kognitiven Theorie des Wissenserwerbs interpretiert.
Two experiments with 14-17 years old learning disabled youth were run to test whether or not a training of inductive reasoning fosters learning of a mathematical subject matter. In combination with earlier studies the following conclusions could be drawn. 1) The training of inductive reasoning improves intelligence test performance. 2) This improvement is even after months effective. 3) Not only the students’ performances but also their solution processes are altered by the training. 4) The training also improves learning of school relevant subject matter. 5) Unexpectedly, the effect of the training on learning ist larger than its effect on intelligence. 6) There are some transfer effects even growing later on.
The results are interpreted in terms of a cognitive theory of knowledge aquisition.
Die Untersuchungen, über die hier zu berichten ist, sind Glied einer länger zurückreichenden Kette von Arbeiten, in denen es um die systematische Erforschung des induktiven Denkens geht. Im Zentrum der gegenwärtigen Serie von experimentellen Studien steht die Frage, ob das Training des induktiven Denkens auch einen förderlichen Einfluß auf das schulische Lernen ausübt. Um diese Untersuchungen angemessen einordnen zu können, sei zunächst ein kurzer Überblick über die drei Wellen von Forschungen vorangestellt, die unsere diesbezüglichen Arbeiten der letzten Jahre kennzeichnen.
Die drei Wellen Am Anfang dieser Serien stand eine neue Definition und Theorie des induktiven
Denkens. Diese Definition legt, wie un
50
ten noch deutlich wird, zunächst den Anwendungsbereich der Theorie durch Abgrenzung von Aufgabenklassen des induktiven Denkens fest. Darüber hinaus macht sie aber auch Aussagen über die zentralen Prozesse, die einer Strategie des induktiven Denkens zugrundeliegen(Masendorf& Klauer 1986, 1987).
Abweichend von vielen anderen Ansätzen wurde die behauptete Lösungsstrategie nicht deskriptiv, sondern präskriptiv aufgefaßt. Es wurde also nicht angenommen und empirisch zu belegen versucht, daß alle Menschen die Strategie beim induktiven Denken tatsächlich anwenden. Vielmehr wurde vermutet, daß alle Menschen in der Lage sein sollten, die Strategie zu erlernen und dadurch ihre Leistungen im induktiven Denken zu verbessern, falls sie nicht ohnedies schon hohe induktive Leistungen erbringen sollten. So lag es nahe, bei Kindern
allgemein und bei lernbehinderten Kindern im besonderen entsprechende Trainingsversuche durchzuführen. Dazu waren dann drei unterschiedliche Anläufe angezeigt.
In einer ersten Welle von Arbeiten wurde überprüft, ob die behauptete Strategie des induktiven Denkens überhaupt so trainiert werden kann, daß sie auf neue Aufgaben transferierbar ist. Dabei wurden zwei Transfermöglichkeiten gleichzeitig geprüft. In der bescheideneren Form wurde erwartet, daß die Lösungsstrategie, die bei einer bestimmten Klasse von induktiven Aufgaben eingeübt wurde, auch auf neue Aufgaben derselben Klasse erfolgreich übertragen würde. In der ehrgeizigeren Variante wurde darüber hinaus erwartet, daß die Lösungsstrategie sogar die Leistung bei einer anderen Klasse induktiver Aufgaben steigern würde, wenn die andere
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 2, 1993