Karl Josef Klauer+
Denken und Lernen bei Lernbehinderten
Klasse im Training gar nicht vertreten war.
Das war ein theoretisch sehr bedeutsamer Schritt. Sollte es nämlich möglich sein, an einer begrenzten Zahl von Aufgaben einer oder mehrerer bestimmter Klassen induktiver Aufgaben etwas zu lernen, das sich als förderlich bei der Lösung aller Aufgaben dieser Klassen oder gar als förderlich bei allen induktiven Aufgaben erweist, so könnte man theoretisch davon ausgehen, daß es eine lehrbare Strategie zur Lösung induktiver Aufgaben gibt. Bei den Untersuchungen waren dann zugleich auch mögliche Alternativerklärungen auszuschließen. Beispielsweise war Vorsorge zu treffen, daß etwaige Effekte nicht auf Anwärmeffekte, auf bloße Zuwendungsoder auf Novitätseffekte und dergleichen mehr zurückgeführt werden konnten. Das erforderte teilweise recht komplexe Versuchsanordnungen. Ein Großteil der Untersuchungen der ersten Welle wurde von Masendorf bei lernbehinderten Kindern durchgeführt(vgl. Masendorf& Maihack 1986; Masendorf, 1985, 1987, 1988; Masendorf, Kullik& Heyland 1989). Meine eigenen diesbezüglichen Untersuchungen wurden vorwiegend in Kindergärten und Regelschulen durchgeführt(Klauer 1987a, b, C, 1988, 19890).
Sieht man von vielen interessanten Besonderheiten und Feinheiten ab, um die größeren Zusammenhänge deutlicher herauszuarbeiten, so muß man die überraschend ermutigenden Ergebnisse dieser ersten Welle von Untersuchungen herausstellen. Es gelang nicht nur, mögliche Alternativerklärungen für Trainingseffekte auszuschließen. Vielmehr erwies sich das induktive Denken durch Vermittlung der entsprechenden Strategie als bemerkenswert trainierbar. Eine spezielle Variante von Metaanalyse zeigte, daß Effektstärken von fast zwei Standardabweichungen beim Transfer der Strategie auf neue Aufgaben derselben Klasse erzielt wurden. Beim Transfer auf eine im Training überhaupt nicht geübte andere Klasse von induktiven Aufgaben zeigte sich immer noch eine mittlere Effektstärke von knapp einer Standardabweichung(Klauer 1989b).
Die Effektstärke von eins bedeutet, daß ein trainiertes Kind im Durchschnitt ein nicht trainiertes um eine Standardabweichung im Posttest übertrifft, wenn beide vorher gleich leistungsfähig waren.
Diese Ergebnisse waren so ermutigend, daß ein Trainingsprogramm entwickelt wurde, mit dem 5—8jährige Kinder aus Kindergärten und Grundschulen trainiert werden können, aber auch entsprechend ältere lernbehinderte Kinder(Klauer 1989c). Inzwischen liegt ein analoges Programm für 10-13jährige Kinder vor (Klauer 1991). Ein weiteres für 14-16jährige Jugendliche, allerdings speziell für lernbehinderte oder sonstwie berufsschwache Jugendliche, ist in Vorbereitung(Klauer, im Druck). Untersuchungen zu diesem Denktraining für Jugendliche werden hier erstmalig veröffentlicht.
Die zweite Welle von Untersuchungen ist nun durch den Einsatz eines der fertig vorliegenden Trainingsprogramme (oder einer Vorform davon) gekennzeichnet, wobei es darum ging, deren Transfereffekte auf die Intelligenztestleistungen zu überprüfen. Warum gerade auf /ntelligenztests? Der Grund hierfür ist einfach der, daß andere Autoren überzeugend enge Zusammenhänge zwischen induktivem Denken und Intelligenz nachgewiesen haben. So wurde im Arbeitskreis von Snow empirisch eindrucksvoll belegt, daß Aufgaben des induktiven Denkens im Zentrum der Intelligenz angesiedelt sind, also des gFaktors, wenn man Verfahren der multidimensionalen Skalierung einsetzt, die eine räumliche Darstellung der Zusammenhänge von Variablen zulassen(Marshalek, Lohman& Snow 1983; Snow, Kyllonen& Marshalek 1984; Shye 1988). Früher war schon im Arbeitskreis von Cattell gezeigt worden, daß das induktive Denken wesentlich den Faktor der fluiden Intelligenz erfaßt(vgl. etwa Horn 1985; Horn& Cattell 1966), was später mit anderen Methoden eindrucksvoll bestätigt worden ist(vgl. Undheim& Gustafsson 1987; Gustafsson 1984; Gustafsson& Undheim 1992). Von daher bietet sich eine prozeßana
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 2, 1993
lytische Interpretation zentraler /ntelligenzfaktoren an. Konnte bislang unzweifelhaft nachgewiesen werden, daß solche Faktoren eine große Rolle spielen, so blieb doch eigentlich unklar, was genau sie psychologisch-inhaltlich repräsentieren. Wäre es möglich, daß es beispielsweise Strategien wie die des induktiven Denkens sind, die letztlich das ausmachen, was solche Faktoren erfassen? Nicht wenige prozeßanalytische Einzelforschungen weisen genau in diese Richtung. Nach dem hier noch vorzustellenden Konzept besteht die Strategie des induktiven Denkens im Kern aus Vergleichsprozessen, und tatsächlich stießen mehrere Autoren unabhängig voneinander auf solche Vergleichsprozesse bei der Analyse unterschiedlichster Aufgaben des induktiven Denkens. Beispiele dafür sind etwa Sternbergs Analysen von Analogieaufgaben oder Putz-Osterlohs Analysen von Matrizenaufgaben des Raven-Tests(Sternberg 1977; Putz-Osterloh 1981).
Wenn es also möglich wäre, durch das Training der Strategie des induktiven Denkens die Intelligenztestleistungen zu fördern, so wäre das von eminentem theoretischen Interesse. Man würde dann annehmen können, daß wichtige Faktoren der Intelligenz durch die Strategie des induktiven Denkens gekennzeichnet wären. Außerdem könnte ein solches Ergebnis auch von praktischer Bedeutung sein.
Um die Theorie einer möglichst strengen Prüfung zu unterziehen, wurden verschiedene Vorkehrungen getroffen. Eine bestand darin, einerseits die Transferdistanz zwischen Trainingsprogramm und Test möglichst groß zu halten, andererseits aber natürlich doch Intelligenztests heranzuziehen, die im wesentlichen aus induktiven Aufgaben bestehen. Da die Trainingsprogramme fast ausschließlich sinnvolle, aus dem Alltag der Kinder entnommene induktive Probleme stellen, wurden solche Intelligenztests herangezogen, die ebenfalls überwiegend induktive Aufgaben stellen, aber sinnfreier, abstrakt-geometrischer Natur sind. Dazu zählen in erster Linie die Matrizenaufgaben von Raven und die Culture Fair Tests CFT von
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