Karl Josef Klauer
Denken und Lernen bei Lernbehinderten
nachgewiesen werden, daß das Training des induktiven Denkens wirksam ist. Eine Erklärung für solche doch langanhaltenden Effekte scheint nur durch die Annahme möglich, daß die im Training erlernte Denkstrategie auch später noch, etwa im Unterricht, gebraucht und geübt wird.
Sehr viel deutlichere Effekte könnte man demnach erwarten, wenn das Denktraining in Abständen und auf höherem Niveau wiederholt würde. Das könnte mit den vorliegenden Programmen in der Unterstufe, der Mittelstufe und der Oberstufe geschehen. Außerdem wäre denkbar, daß die Lehrenden in den Schulen besser über induktives Denken aufgeklärt würden. Sie könnten die Strategien des induktiven Denkens dann bewußt im Unterricht üben und festigen, wie dies an vielen Beispielen gezeigt worden ist(Klauer 1991b). Auf diese Weise würden sie nicht nur systematisch Wissen vermitteln, sondern auch das Denken fördern, geistige Kapazitäten entwickeln. Diese Überlegungen treffen sich mit Feuersteins»Brückenprinzip«(Feuerstein, Rand, Hoffman& Miller 1980): Feuerstein legt ebenfalls größten Wert darauf, die Kluft zwischen seinem allerdings inhaltsfreien, rein formalen Training und dem Unterricht zu überbrücken. Das soll dadurch geschehen, daß die Lehrenden die formalen Strategien des Trainings in den Unterricht übertragen sollen, wo immer sie passen.
Es scheint so zu sein, daß das anders konzipierte Training des induktiven Denkens diese Überbrückung weniger notwendig hat. Dafür spricht, wie unten noch deutlich wird, der Einfluß des Trainings auf schulisches Lernen. Dafür sprechen aber auch die erwiesenen Langzeiteffekte. Besonders bemerkenswert ist allerdings der Umstand, daß der erwartete Abfall des Trainingsgewinns nach fünf Monaten in einem Fall praktisch ausbleibt und daß in zwei Fällen sogar noch ein Anstieg zu verzeichnen war. Beim direktiven Training war der Trainingseffekt auf die Mathematikleistung noch praktisch unverändert. Das nicht direktive Training führte dagegen sowohl beim Intelligenztest als auch beim
Mathematiktest nach fünf Monaten zu größeren trainingsabhängigen Transfereffekten. Diese Befunde sind theoretisch wie praktisch so bedeutsam, daß es vorerst noch ratsam erscheint, sie nicht zu stark zu beachten. Man kann sich aber leicht vorstellen, daß der Trainingsgewinn auf längere Sicht deutlich stabilisiert und vielleicht sogar noch ausgebaut wird, wenn das induktive Denken durch die Lehrenden aktiv unterstützt und sein Transfer auf andere Leistungen intensiv eingeübt würde.
Zum Einfluß des Trainings auf die Lösungszeiten beim SPM. Die Veränderung der Lösungszeiten gilt als ein Indikator für verändertes Lösungsverhalten. Es konnte nun deutlich gezeigt werden, daß das Training der Strategien des induktiven Denkens nicht nur zur Verbesserung der Leistungen geführt hat. Vielmehr wird deutlich, daß eine Veränderung des Lösungsverhaltens ebenfalls stattgefunden haben muß.
Die raschere Arbeitsweise der Kontrollgruppe im Posttest ist leicht zu erklären. Wenn nach wenigen Wochen ein Test erneut gegeben wird, ein Test also, den man schon kennt, wird die Leistung im allgemeinen nicht nur etwas besser, sondern auch schneller erbracht. Die Vertrautheit mit dem Material und der Testprozedur sorgt dafür, daß nun zielstrebiger, ohne Um- und Abwege vorgegangen werden kann. Wie steht es aber mit der Verlängerung der Lösungszeiten bei den beiden Trainingsgruppen?
Hier bieten sich zwei Erklärungen an. Denkt man an das Gegensatzpaar von Impulsivität und Reflexivität(Kagan 1965), so ist klar, daß beide Trainingsvarianten deutlich auf mehr Reflexivität hingewirkt haben. Von daher ließe sich vermuten, daß die Trainingsvarianten zugleich eine Form von Reflexivitätstraining realisiert hätten. Allerdings konnte Wagner(1976) deutlich zeigen, daß ein Reflexivitätstraining zwar recht erfolgreich ist in der Verlängerung der Bearbeitungszeiten, daß die Probanden deswegen aber noch immer nicht bessere Leistungen bringen. Hier liegen
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 2, 1993
aber deutliche Leistungsverbesserungen vor.
Eine andere Erklärung bietet sich daher mit folgender Überlegung an. Das Erlernen einer neuen und effektiveren Lösungsstrategie erfordert eine oft erhebliche Umstellung. Bis die neue Strategie wirklich sozusagen automatisiert ist, dauert ihre Anwendung meist länger als die gewohnte, aber weniger effektive Strategie. Hier spricht manches dafür, daß die jungen Leute zuvor eine Strategie verwendeten, bei der im Zweifel rasch geraten wird. Wenn nun aber im Zweifel gezielt, ja vielleicht sogar systematisch analysiert wird, so muß dieses Vorgehen zweifellos zu längeren Lösungszeiten führen.
Es erscheint vielversprechend, diesen Fragen in neuen Untersuchungen nachzugehen. Allerdings kann man schon jetzt das Fazit ziehen, daß das Training des induktiven Denkens auch das Lösungsverhalten beeinflußt hat. In einer Untersuchung bei Gymnasialkindern konnte das ebenfalls nachgewiesen werden(Klauer, 1992), dort aber anhand von sprachlichen Schüleräußerungen, also nicht nur mit anderen Probanden, sondern auch mit einer anderen Methodik.
Zum Vergleich der beiden Trainingsvarianten.. Beim direktiven wie beim nichtdirektiven Training lag dasselbe Trainingsmaterial zugrunde, nämlich das »Denktraining für Jugendliche«. In beiden Fällen wurde auch dieselbe Sozialform eingesetzt, das Paartraining. Die Varianten unterschieden sich dagegen in der Trainingsmethode und— unbeabsichtigt— in der Trainingsdauer.
Streng statistisch gesehen gab es nur einen einzigen bedeutsamen Unterschied zwischen den beiden Trainingsvarianten. Die nicht direktive Form führte längerfristig zu besseren Transfereffekten beim Intelligenztest SPM. Bemerkenswert ist allerdings die ansteigende Tendenz des längerfristigen Transfereffekts, die sich für diese Variante in Abbildung 9 andeutet, aber auch die ansteigende Tendenz im längerfristigen Effekt auf die Mathematikleistung(vgl. die Effektstärken in Ta
63