Karl Josef Klauer+
Denken und Lernen bei Lernbehinderten
bislang vorliegenden Ergebnisse von Untersuchungen, in denen der Einfluß des Denktrainings auch auf das Erlernen anderer schulischer Lehrstoffe ermittelt wurde. Dabei wurde in allen Fällen im Anschluß an das Training ein kontrollierter Lehr-Lern-Versuch mit schulrelevantem Lehrstoff durchgeführt. Die Lehrstoffe waren keineswegs immer der Mathematik entnommen. In den Experimenten Igelmund, Benicke und Jackmuth gab es jeweils zwei Trainingsvarianten. Deshalb finden sich dort jeweils zwei Zahlenpaare von Effektstärken ES. In den Experimenten von Becker und Munz waren zwei lehrstoffbezogene Variablen erhoben worden. Deshalb findet man dort je zwei Effektstärken in der Spalte Lehrstoff. Bei den beiden ersten Studien von Tabelle 9 handelt es sich um die hier beschriebenen. Hier wurde das Denktraining für Jugendliche eingesetzt, in allen anderen das Denktraining für Kinder I. Wie man sieht, ordnen sich die in der Sonderschule erzielten Ergebnisse gut in die übrigen Ergebnisse ein. Durchweg wurden zufriedenstellende Größenordnungen des Transfers auf schulisches Lernen festgestellt, nicht selten sogar ausgesprochen große Effekte. Von den 15 Effektstärken, die die Auswirkung auf schulisches Lernen betreffen, sind zehn größer als 0,5. In zehn von 15 Fällen übertraf also im Durchschnitt ein trainiertes Kind ein nicht trainiertes im schulischen Lernen um eine halbe Standardabweichung oder mehr. In keinem Fall aber hat das Denktraining das Lernen beeinträchtigt, sondern immer nur gefördert, wenn auch nicht immer statistisch signifikant.
Interessant ist noch ein Vergleich der Effektstärken mit denen, die beim Intelligenztest erzielt wurden. In Tabelle 9 sind 13 solcher Vergleiche möglich. In 12 der 13 Fälle war der Transfer auf das Erlernen des Lehrstoffs größer als
Literatur
Aebli, H.(1980). Denken: Das Ordnen des Tuns, Band 1. Stuttgart: Klett
Cotta.
Aebli, H.(1981). Denken: Das Ordnen des Tuns, Band 2. Stuttgart: Klett
Cotta.
der Transfer auf die Intelligenztestleistung. Nach Wilcoxons Test für abhängige Datenpaare tritt dieses Ergebnis durch Zufall mit einer Wahrscheinlichkeit von p= 0,00(zweiseitig) auf. Der Unterschied ist also statistisch signifikant. Aufgrund dieser Befundlage müssen wir schließen, daß das Denktraining schulisches Lernen noch stärker beeinflußt als die Leistungen, die der Intelligenztest beansprucht. Das Denktraining fördert zweifellos das allgemeine intellektuelle Leistungsniveau. Es fördert offenbar das schulische Lernen aber noch stärker. Wie läßt sich das erklären? Vermutlich beeinflußt das induktive Denken schulisches Lernen nicht oder nicht nur auf dem Umweg über die Intelligenz. Es muß vielmehr einen direkten fördernden Einfluß vom induktiven Denken auf den Wissenserwerb geben. Wie soll man sich diesen Einfluß vorstellen?
Bei der Auswahl der Lehrstoffe, die zu den Versuchen herangezogen wurden, wurde darauf geachtet, solche zu wählen, bei denen der Vergleich von Merkmalen oder der Vergleich von Relationen eine wichtige Rolle spielen dürfte, denn Strategien für diese Vergleiche werden beim Training des induktiven Denkens ja intensiv eingeübt. Allerdings läßt sich leicht zeigen, daß diese Strategien beim Erwerb praktisch allen deklarativen Wissens gefordert sind. Deklaratives Wissen, das ja auch beim Erwerb prozeduralen Wissens beteiligt ist, läßt sich bekanntlich in Netzwerken kognitiv repräsentieren(Anderson 1983, 1987). Solche Netzwerke bestehen aus Elementen, die durch Relationen untereinander verknüpft sind. Nun sind des weiteren die Elemente und die Relationen durch bestimmte Eigenschaften oder Merkmale gekennzeichnet. Folglich sind Merkmale und Relationen die Bausteine, mit deren Hilfe Wissen kognitiv repräsentiert werden kann.
University Press.
Das gilt nun für nahezu alles Wissen, zumindest soweit es deklarativ ist. Das induktive Denken hat allerdings zunächst nur mit solchem Wissen zu tun, bei dem Objekte Merkmale und Relationen gemeinsam haben. Insofern hat es mit allgemeinem Wissen zu tun, mit Generalisierungen wie Begriffsbildung, wie Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten, kurz: Mit generischem Wissen. Ein Großteil des in der Schule vermittelten Wissens gehört aber zu dieser Kategorie von Wissen. Die Strategien des induktiven Denkens sind darüber hinaus aber auch gefordert, wenn individuelle Ereignisse und Sachverhalte einem kognitiven Schema zugeordnet werden sollen. Sie werden dann verstanden oder eingeordnet als»ein Fall von...«. Die ordnungstiftende Funktion des induktiven Denkens ist nur möglich, wenn relevante Gemeinsamkeiten zwischen dem kognitiven Schema und dem neuen Sachverhalt erkannt werden(Aebli 1980, 1981). Die relevanten Gemeinsamkeiten beziehen sich notwendigerweise auf Merkmale oder/und auf Relationen.
Es gibt also gute theoretische Gründe, die dafür sprechen, daß die Strategien des induktiven Denkens den Erwerb deklarativen Wissens unterstützen. Diese theoretische Vermutung ist, wie sich gezeigt hat, auch empirisch gut gesichert. Insofern kann man die Strategien des induktiven Denkens auch den Lernstrategien zurechnen. Sie fördern das verständige, sinnvolle Lernen, weil sie die Zusammenhänge einsichtig machen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Hinblick auf Merkmale und Relationen erkennen bedeutet ja allgemein, Ordnung zu stiften, Strukturen zu beachten und zu unterscheiden, Zugehöriges von nicht Zugehörigem begründet zu trennen.
Anderson, J.R.(1983). The architecture of cognition. Cambridge, MA: Harvard
Anderson, J.R.(1987). Skill acquisition: Compilation of weak-method problem
solutions. Psychological Review, 94, 192-210.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 2, 1993
65