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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Leben im Heim

Identitätsrelevante Umweltgegebenheiten in zwei heilpädagogisch­orientierten Kinder- und Jugendheimen

Von Manfred Spindler

In zwei heilpädagogisch-orientierten Kinder- und Ju­gendheimen wurden identitätsrelevante Aspekte des Mi­lieus erhoben mittels halbstrukturiertem Interview und Skalen zum sozialen Klima.

Im Heim können sich Kinder und Jugendliche wohl­fühlen, ein hohes Maß an emotionaler Beteiligung, Un­terstützung, Ordnung, Organisation und lebenspraktische Vorbereitung erfahren. Dennoch wird das Zuhause nach wie vor in der Herkunftsfamilie erlebt. Die zugestande­nen Freiräume und Handlungsmöglichkeiten variieren je nach Erziehungsethos. Hohe Konfliktträchtigkeit des Lebens und durchbrochene Privatsphäre fanden sich als Charakteristika in beiden Heimen ebenso wie Schwie­rigkeiten individuumzentrierter Betreuung und geringe

Identity-relevant dimensions in two residential envi­ronments were measured via semi-structured Interviews and social climate scales. The results indicate that within residential care general well-being can be experienced, emotional involvement and support, order and orga­nization as well as practical orientation. Yet the residents feel at home within their families of origin. Degrees of freedom seem to vary according to the underlying care ethos. High conflict potential and very limited privacy as well as difficulties in individualizing care and low intellectual-cultural orientation were found charac­terizing both institutions.

Betonung intellektuell-kultureller Themen.

Theorie Identitätsentwicklung

Identität als Bewußtsein und Konstrukt des Selbst ist ein komplexes Gefüge viel­fältiger miteinander verknüpfter psychi­scher Strukturen, ein dynamisches Ge­schehen, das sich über die Lebensspan­ne weiterentwickelt. Der Identitätsbe­griff selbst ist nicht klar und eindeutig definiert und wird hier nicht weiter dis­kutiert(vgl. Harter 1983; Haußer 1983; Oerter 1987b; Whitbourne& Weinstock 1982).

Wie Entwicklung generell, ist Regula­tion und Ausdifferenzierung von Identi­tät in Bezogenheit zu den Erfahrungen zu sehen, wie sie in einer gegebenen Umwelt möglich sind. Es bieten sich Modelle der Identitätsregulation und -ausdifferenzierung an, die im Prinzip auf den Prozessen Deduktion(Durch­dringung der Erfahrung durch die Iden­

tität über Art der Wahrnehmungsinter­pretation, Motivation, Handlungsreper­toire, Erwartungen etc.) und Induktion (Differenzierung der Identität durch Er­fahrungen im Kontext) aufbauen(vgl. Whitbourne& Weinstock 1982; Haußer 1983). Überwiegt die Deduktion, so sind bereits erworbene Identitätsfunktionen eher rigide und Entwicklungsmöglich­keiten, die nicht im Einklang mit dem momentanen Selbststatus stehen, wer­den ausgefiltert und nicht wahrgenom­men. Oder aber in der Umwelt sind we­nig neue und anregende Erfahrungen zu­gänglich, zu wenig Anstöße für induktive Differenzierung. Steht Induktion einsei­tig im Vordergrund, so wird der indivi­duelle Identitätsstatus nicht genügend berücksichtigt oder es erfolgt Reizüber­flutung. Umwelterfahrungen können dann nicht ausreichend integriert wer­den und Identitätsdiffusion droht.

Kegan sieht in der Bezogenheit von Per­son und der für sie bedeutungsvollen

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 2, 1993

Umwelt drei grundlegende, ineinander­greifende Funktionen hinsichtlich der Entwicklung des Selbst: Bestätigung (Halten), Widerspruch(Loslassen) und In-der-Nähe-bleiben. Bestätigung bedeu­tet, ob und wie sicher die Umgebung des Kind emotional hält und unterstützt. Widerspruch bedeutet Förderung, Anre­gung und Akzeptanz von Verlassen ei­nes bisherigen und der Suche nach ei­nem neuen Identitätsniveau. Entwick­lung der Identitätsregulation ist häufig verbunden mit Aufsuchen neuer Ent­wicklungswelten oder veränderter Wahr­nehmung und Nutzung bestehender Gegebenheiten. Im Prozeß der Weiter­differenzierung muß die bisher einbin­dende Umgebung für die Person weiter­hin erreichbar sein und dem sich ent­wickelnden Selbst noch eine bestimmte Zeit Rückhalt bieten,in der Nähe blei­ben Kegan(1986).

Im wechselseitigen Bezug von Erfah­rung der Umwelt und Integration der

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