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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Manfred Spindler- Leben im Heim

objektiven Welt in diesubjektive Struktur wird der Aufbau von positivem Selbstwert und sozialer Rücksichtnahme in einem emotional zugewandten Mikro­system mit klarer und konstanter Struk­tur erleichtert(vgl. Oerter 1979, 1986, 1987c). Innerhalb eines Entwicklungs­kontextes sind aber auch entwicklungs­entsprechende Freiräume und Hand­lungsmöglichkeiten sowie angemessen komplexe Anregungen notwendig(Bron­fenbrenner 1981; Langmeyer& Matej­cek 1977). Hinsichtlich der Identitätsent­wicklung sind neben objektiven Gege­benheiten deren subjektive Wahrneh­mung wichtig. Das subjektive Auffas­sen und Erleben von Umweltgegeben­heiten wiederum ist mit der jeweiligen Regulation des Selbstsystems verknüpft (James& Sells 1981; Nysted 1981; Jessor 1981; Lewin 1986; Oerter 1987c; Moos 1974, 1975, 1976, 1979a+b+C). Neben individuell und situativ bedingten Va­riationen des Erlebens einer gegebenen Umwelt weisen die Wahrnehmungen der Partizipanten häufig Übereinstimmun­gen auf. Atmosphäre oder Klima einer Umwelt bezeichnet deren überindividu­ell erlebte Charakteristika und Qualitä­ten. Soziales Klima kann gesehen wer­den als übereinstimmende Realitätskon­struktion der Personen eines Settings hin­sichtlich des sozialen Geschehens in ihm (Oerter 1987c). Das soziale Klima kann für die Person... wichtige Einflußgröße darstellen auf ihre Haltungen und Stim­mungen, Verhalten, Gesundheit und all­gemeines Wohlbefinden, die soziale, persönliche und intellektuelle Entwick­lung(Moos 1975, S.8).

Identitätsrelevante Umfeldbedingungen

Positive Selbstbildentwicklung organi­siert sich um enge persönliche Bezie­hungen mit Bindungsqualität, die ge­wissermaßen das Zentrum einer halten­den und unterstützenden Umwelt bilden (Ainsworth 1973; Bronfenbrenner 1986; Dührssen 1977; Langmeier& Matejcek 1977).

Bindungen(Ainsworth) bzwprimär­dyadische Beziehung(Bronfenbrenner)

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erscheinen im Heim nicht gegeben. Ber­ridge und Fisher et al. weisen aus eige­nen Studien und Überblicken zu empiri­schen Befunden anderer Autoren darauf hin, daß die wichtigsten Bezugspersonen nach einer Heimunterbringung nach wie vor die leiblichen Angehörigen für die Heimzöglinge bleiben(Berridge 1985; Fisher, Marsh, Phillips& Sainsbury 1986). Insbesondere Jugendliche bevor­zugen eine genaue Rollentrennung zwi­schen Heimpersonal und Eltern. Erwar­tungen, den anderen Heimkindern wie Geschwistern, Betreuungspersonen wie Verwandten zu begegnen oder sie als Ersatz zu sehen, stoßen auf Widerstand. Kinder, die nach der Heimunterbringung noch Kontakt zu ihren Angehörigen hal­ten können, akzeptieren die Fremdunter­bringung besser und entwickeln sich günstiger(Berridge 1985; Bullock 1987; Millham 1987). Für die Kinder bleibt die Verfügbarkeit der primären Bezugs­personen sehr wichtig, auch wenn der Lebensvollzug nicht mehr gemeinsam erfolgt. Hier zeigen sich Analogien zu Befunden an Scheidungskindern(Bau­ers, Reich& Adam 1986; Copeland 1985; Lehmkuhl 1988; Lowery 1985; Mendell 1983; Stolberg& Bush 1985; Wyman, Cowen, Hightower& Pedro­Carroll 1985). Für die Heimerziehung stellt sich somit nicht die Aufgabe des Familienersatzes, sondern die, den Er­halt von Verbindungen zur Familie zu unterstützen. Heimerziehung die sich nur auf das Leben innerhalb der Institution bezieht und nicht die primären Bezugs­personen der Zöglinge in ihrem Arbeits­konzept berücksichtigt, läßt wichtige, identitätsrelevante Einflußgrößen außer acht.

Weitere wichtige Funktionen für Identi­tätsaufbau und Sozialisation sind in den Grenzregulationsprozessen eines Um­weltsystems zu sehen(vgl. Cierpka 1986; v. Schlippe 1987; Schneewind 1987). Identitätsentwicklung vollzieht sich nicht nur im Mikrosystem sondern auch in Kontakt und Austausch über dessen Grenzen hinaus. Hohe Abgrenzung der unmittelbaren Lebenswelt gegenüber einbindenden sozialen und kulturellen Welten behindert insbesondere die Aus­bildung sozialer Rollen und Kompeten­

zen. Sind die Systemgrenzen hingegen zu offen, so bedeutet dies Verlust des haltenden Charakters, der Intimität und Geborgenheit. Die Grenzfunktionen in­nerhalb eines Umweltsystems(Binnen­regulation) und nach außerhalb(Gren­zen gegenüber der Umwelt) können auf den Kontinua klar-diffus und starr-flexi­bel betrachtet werden. Klare Grenzen vermitteln eine eindeutige Struktur, sind für alle Beteiligten gleichermaßen er­kennbar, die Auslegung ist überindivi­duell und übersituativ bekannt. Zu star­re Grenzen gleichen sich nicht den Er­fordernissen der Individuen(z.B. alters­gemäße Entwicklungsaufgaben) an, son­dern bleiben bestehen auch wenn sie in einer gegebenen Situation nicht(mehr) funktional sind. Diffuse Grenzen bedeu­ten mangelnde Abgrenzungs- und Dif­ferenzierungsmöglichkeiten von Indi­viduen oder Subsystemen, mangelnde Autonomie und eingeschränkte persön­liche Sphäre. Klare und dabei flexible Grenzen werden als identitätsfördernd angesehen(Cierpka 1986; v. Schlippe 1987). Entwicklungsfördernde Grenz­regulationen eines Lebenssystems sind charakterisiert durch Gewährleistung persönlicher Bereiche und Autonomie und dennoch klar definierten Verbin­dungen zur Umgebung, Zugangs- und Zugehörigkeitsmöglichkeiten. Neben Abgrenzungsmöglichkeiten der Person müssen Beziehungen und Bezug viel­fältiger Art innerhalb des Mikrosystems und darüber hinaus gegeben sein. Auf dem Kontinuum persönlicher Autonomie einerseits und Eingebundenheit anderer­seits sind drei Schwerpunkte der Grenz­regulation zu unterscheiden: Persönli­che Autonomie, Selbstbestimmung(Pri­vatleben, persönliche Sphäre), Abstim­mung mit den Umweltgegebenheiten (Kooperation) und Unterordnung unter die Anforderungen der Umwelt(Fremd­bestimmung). Sind alle drei Aspekte in einem Entwicklungskontext gleicher­maßen gegeben, so besteht ein gewisses Maß an Konstanz und Struktur, dennoch Einflußmöglichkeiten der Individuen auf die Gegebenheiten, sowie Autonomie des Einzelnen bis hin zu einem gewissen Grad an Anderssein. Die identitätszer­setzenden Folgen von Rollendeprivation,

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 2, 1993