Manfred Spindler» Leben im Heim
eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten und mangelnder Privatsphäre in der„totalen Institution“ wurden eindrücklich von Goffman geschildert (Goffman 1973). Vermittlung und Erwerb von sozialen Fertigkeiten und Fähigkeiten auch materiell-physikalische Gegebenheiten zu bewältigen, erfordern über die Konstanz der Umwelteinbindungen hinaus entwicklungsangemessene Komplexität und Variabilität der Settings. Bronfenbrenner plädiert für den Zugang zu möglichst vielen unterschiedlichen ökologischen Kontexten mit Übergangshilfen und Bindegliedern, sowie Variabilität der sozialen Rollen die in verschiedenen Kontexten bekleidet und erfahren werden(Bronfenbrenner 1986).
Ökologisch orientierte Forschung
Entwicklung in komplexen Lebenswelten zu sehen führt hin zu Forschung, die sich den Individuen in ihrer natürlichen Alltagswelt zuwendet(Savin-Williams 1987; Schmidt-Denter 1984+1988; Walter& Oerter 1979).
Umwelten komplex zu beschreiben, mit dem Standort des Forschers innerhalb des Feldes bis hin zur aktiven Beteiligung hat lange Tradition(vgl. Zeisel 1975). Um Inhalte, überhaupt und zudem solche, die sich erst wärend der Datenerhebung als interessant erweisen, näher spezifizieren zu können ist ein hohes Maß an Kommunikation zwischen Feld und Forscher angezeigt. Die Erhebungsinstrumente sollten nicht nur vorgefaßte Gesichtspunkte prüfen, sondern auch für Informationen und Erforschung von Zusammenhängen offen sein die bei der Konzeption einer Studie noch nicht bedacht wurden, sich aber im Laufe der Erhebung ergeben. Besonders geeignet erscheint hier das halbstrukturierte qualitative Interview, das zwar Leitthemen und Fragen enthält die allen Probanden gestellt werden und doch Offenheit und Beweglichkeit erlaubt, im Gespräch über den Interviewleitfaden hinauszugehen (Linehan 1977; Witzel 1982). Die Verknüpfung einzelner Aussagen ist hier gut möglich, Zusammenhänge können
hergestellt werden, und der Forscher kann sein Verständnis einer Aussage zusammenfassen und vom Gesprächspartner überprüfen lassen, nachfragen und auch mit Informationen konfrontieren, die in anderen Zusammenhängen gewonnen wurden.
Die direkte, teilnehmende Beobachtung auch unsystematischer Art liefert in Institutionen wertvolles Material oder Ergänzungen, wie auch die Analyse von Akten(vgl. Goffman 1973; Berridge 1985; Jahoda, Lazarsfeld& Zeisel 1975). Auch ein Forscher ist, wenn er sich in einen ökologischen Kontext begibt, Teil desselben. So bildet er z.B. für die Dauer eines Gesprächs mit seinem Interviewpartner ein Subsystem und auch seine subjektiven Eindrücke im Prozess der Datenerhebung und-analyse können Aufschluß über das Untersuchungsfeld geben, denn sie stellen ja ebenfalls den Blickwinkel eines(zumindest temporär) Beteiligten dar.
Die Auswahl der Merkmale oder Aspekte einer Umwelt hängt von der zugrundeliegenden Fragestellung einer Untersuchung ab. Fokussiert werden Umweltmerkmale, von denen theoriegeleitet angenommen werden kann, daß sie für ein Kriterium relevant sind. Wird das Heim z.B. als Arbeitsplatz untersucht, so werden andere Schwerpunkte in der Erfassung des Kontextes gesetzt, als wenn z.B. die Umweltvoraussetzungen für den Schulerfolg der Zöglinge abgeschätzt werden sollen. Forschungsgegenstand sollten solche Umweltbedingungen sein, die theoretisch und empirisch fundiert in Zusammenhang gesehen werden mit dem Thema einer Untersuchung(Schmidt-Denter 1984).
Fragestellung
In der vorliegenden Studie wurde versucht auf Bedingungen des Heimlebens einzugehen, die als relevant für die Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen gesehen werden.
Im theoretischen Teil wurden Aspekte von Lebenswelten herausgearbeitet, wie sie identitätsfördernd angesehen werden. Die Ergebnisse sollen Schlußfolgerun
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 2, 1993
gen erlauben, wie Leben im Heim diesbezüglich zu beurteilen ist. Im theoretischen Teil wurde die Bedeutung des subjektiven Erlebens für die Identitätsentwicklung und-regulation herausgearbeitet. Als themenimmanente Konsequenz wurde das subjektive Erleben und seine Variationen zu erfassen gesucht, denn weniger die objektiv beschreibbaren als vielmehr das subjektive Erleben der Lebenssituation hinsichtlich bestimmter Aspekte ist in diesem Zusammenhang interessant. Forschungsgegenstand war das subjektive Erleben von:
— Wohlfühlen der Zöglinge im Heim
— Freiräume und Handlungsmöglichkeiten
— Privatbereich
— Konstanz der sozialen Bezüge(Belegungsfluktuation)
— Soziales Klima
— Individualisierung in der Erziehung
— Bedeutung der Herkunftsfamilien
Die Daten wurden in je zwei Heimgruppen aus zwei Einrichtungen erhoben. Primäres Ziel dabei war nicht, die Heime oder Gruppen zu vergleichen, sondem eine gewisse Generalisierung der Befunde auf vergleichbare Heime hinsichtlich Identitätsentwicklung zu erlauben.
Settingbeschreibung
Die Daten für die Studie wurden in zwei heilpädagogisch- orientierten Heimen erhoben, im folgenden S(für Stadt) und L (für Land) genannt. Beide Heime gliedern sich in vier alters- und geschlechtsgemischte Wohneinheiten. Das Belegungssoll beträgt in S 10-12 Kinder pro Gruppe, in L 10 Kinder. Das Aufnahmealter wird in S mit 3-13 Jahren, in L mit 0-13 Jahren angegeben, wobei in beiden Heimen in Einzelfällen Abweichungen möglich sind. Die Betreuung ist prinzipiell bis zur Volljährigkeit oder Abschluß einer Berufsausbildung möglich. Für beide Heime sind die Aufnahme ausschließende Kriterien: Extreme Verhaltensauffälligkeiten, Untragbarkeit in öffentlichen Schulen, geistige und
81