Interviewleitfadens hinaus wurden Abweichungen und Exkurse zugelassen und auf jeden versucht individuell einzugehen. Die Interviews wurden auf Tonträger aufgezeichnet und wortwörtlich transskribiert. Eine Befragung dauerte bei den Zöglingen durchschnittlich 45 Minuten, bei den Funktionsträgern zwei bis zweieinhalb Stunden. Insgesamt wurden 32 Kinder und Jugendliche, 10 Gruppenbetreuerinnen und 2 Heimleiterinnen befragt.
Anschließend an das Gespräch wurde Zöglingen wie Funktionsträgern ein Fragebogen zum sozialen Klima vorgelegt, eine übersetzte und auf die Heimgruppe angeglichene Kurzfassung der„Correctional Institutions Enviroment Scale“ (CIES), mit drei zusätzlichen Subskalen der„Family Enviroment Scale“(FES) (vgl. Moos 1975; Spindler 1991).
Nach Moos können diese Dimensionen sozialen Klimas folgendermaßen beschrieben werden: Die Beziehungsdimension erfaßt Art und Intensität persönlicher Beziehungen in einer Umwelt unter den Gesichtspunkten a) Beteiligung(emotionale Involviertheit, Zusammenhalt), b) Unterstützung, wie sie von anderen Personen erfahren wird und c) Expressivität, den offenen und spontanen Gefühlsausdruck. Die Reife- und Entwicklungsdimension reflektiert die grundlegende Richtung eines Erziehungsprogramms, wie persönliches Wachstum in einer Umwelt gefördert wird. Sie untergliedert sich in a) Autonomie, b) praktische Orientierung(Kompetenzvermittelung), c) Problemorientierung(wieweit Auseinandersetzung mit mit persönlichen Problemen Einzelner erfolgt, d) intellektuell-kulturelle Orientierung, e) aktive Freizeitgestaltung, f) moralisch-religiöse Betonung. Die Systemerhaltungsdimension erfaßt die erlebte Strukturiertheit des Milieus hinsichtlich a) Ordnung und Organisation, b) Klarheit und c) Kontrolle(Moos 1975, 1979a, 1979b).
Jede der 12 Subskalen wird durch je vier Items erfasst, die möglichen Ausprägungen jeder Subskala liegen zwischen 0 und 4.
Die Belegungsfluktuation über drei Jahre wurde aus den Heimakten ermittelt.
Auswerterübereinstimmung
Alle Interviewtransskripte, Fragebogen und sonstigen Unterlagen(Akten, Berichte, Gutachten, Stellenbeschreibungen, Gerichtsunterlagen, Konzeptionen) wurden vom Autor persönlich ausgewertet, die Auswertungskategorien induktiv wie deduktiv entwickelt(Haußer 1983). Da kein Forscherteam zur Verfügung stand, mußte bei der Bestimmung der Auswerterübereinstimmung eine gewisse Einschränkung in Kauf genommen werden: Sie wurde nicht bestimmt bei Heimakten und Klimaskalen. Bei den Interviews wurde sie exemplarisch anhand weniger Fälle abgeschätzt. Die Koauswerterinnen waren nicht trainiert und es fand auch keine Diskussion über eventuell strittige Punkte statt. Neben den zu bearbeitenden Interviewtransskripten wurde den Koauswerterinnen lediglich das Kategorienschema ausgehändigt. Die Übereinstimmung mit dem Autor wurde bei 6 Zöglingsinterviews anhand von 44 Kategorien ermittelt und bei 3 Funktionsträgerinterviews anhand von 42 Kategorien. Bei den Zöglingsinterviews stimmten die Koauswerterinnen und Autor bei durchschnittlich 35,3 oder 80,3% der 44 Kategorien überein. Bei Auswertung der drei Funktionsträgerinterviews stimmten Autor und Koauswerterin bei durchschnittlich 36,7 oder 87,3% von 42 Kategorien überein.
Darstellung der Ergebnisse
Eine anhand eines Interviewleitfadens vorstrukturierte Befragung von Individuen ergibt zwangsläufig eine Bandbreite individueller Aussagen mit vielfältigen Abstufungen und Ausprägungen, Material, das sich in seiner Vielschichtigkeit der Quantifizierung eher widersetzt. Diese ist zudem bei geringer Anzahl von Befragten, da notwendigerweise stark vergröbernd, von nur begrenzter Aussagekraft. Die Darstellung soll einerseits gewisse Strömungen und Tendenzen über die Interviews dokumentieren, aber auch dem Spektrum an Sichtweisen und Angaben gerecht werden und deren Bandbreite erhalten und
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 2, 1993
Manfred Spindler- Leben im Heim
vermitteln. Ausgehend von diesen Überlegungen wird versucht einen Mittelweg einzuschlagen zwischen einem Übermaß an Quantifizierungsversuchen und der rein narrativen Darstellung. Erkennbaren Tendenzen über die Interviews, werden im Text anhand von Zahlenangaben verdeutlicht, aber auch Nuancen des Erlebens in der Darstellung berücksichtigt. Auf diese Weise bleiben auch Einzelangaben und damit die Bandbreite individueller Perspektiven erhalten. Ergebnispräsentationen mit einem nur geringen Maß an Quantifizierung, zusammenfassenden Eindrücken, Exkursen und auch Eindrücken des Feldforschers, sind bei Arbeiten aus dem Bereich von Institutionen oder anderen ökologischen Kontexten weder neu, noch unüblich(vgl.Berridge, 1985; Fisher et al., 1986; Goffman, 1973; Rivlin, 1985; Wyss, 1977; Jahoda et al., 1975).
Interviewergebnisse Wohlfühlen im Heim
Die Kinder und Jugendlichen erleben sich überwiegend von ihren Betreuerinnen angenommen und gemocht(S: 71%, L: 64%).
Sie erleben Vermittlung von Verhaltensnormen, schulische Förderung, Aufsicht und Kontrolle aber auch Versorgen und Betreuen, Freizeitgestaltung, Vorbereitung auf die Zukunft, Hilfe bei Problemen und Sorgen, Unterstützung bei Konflikten und Schwierigkeiten, sowie hauswirtschaftliche Aktivitäten.
Das Privatleben der Betreuerinnen erscheint deutlich abgegrenzt vom Leben in der Heimgruppe, auch bei den Ordensfrauen. Die persönliche„private“ Identität der Funktionsträger teilt sich den Zöglingen nicht mit, sondern es handelt sich klar um eine professionelle Beziehung. Kenntnis vom Privatleben der Betreuerinnen wird in S von 94% der Befragten, in L von 100% verneint.
In einer nicht geringen Anzahl von Interviews kommt den Betreuern gegenüber Zurückhaltung zum Ausdruck, Persönliches mitzuteilen(S: 47%, L: 40%). Von diesen Zöglingen werden Unbeha
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