Manfred Spindler- Leben im Heim
gen, Ungewohntsein genannt, Auswahl von Themen, mit denen man zur Betreuerin gehen kann, sowie Furcht vor Kritik und Konsequenzen. Das Erleben des Angenommenseins seitens der Mitzöglinge wird dagegen zurückhaltender beurteilt(S: 59%, L: 40%). Sie können unterstützend erlebt werden, dennoch gehören in allen Gruppen Konflikte und Streitigkeiten teils heftiger Art zum Alltag. Davon berichten Zöglinge wie Betreuerinnen. Das Beziehungserleben den Mitzöglingen gegenüber, stellt ein Spektrum mit fließenden Übergängen dar. Gruppenmitglieder können als Freunde erlebt werden, es kommt aber auch vor, daß von ihnen keine Hilfe und Unterstützung erlebt wird, und Einzelne als belastende Störer erlebt werden(S: 71%, L: 40%). Im Heim kann Gemeinschaft erlebt werden, die anderen Zöglinge werden als Spiel- und Unterhaltungspartner geschätzt, immer ist die Möglichkeit zu sozialen Kontakten gegeben, es wird nicht langweilig.
Als Kehrseite des Lebens in einem großen Kollektiv werden mangelnde Möglichkeiten des Individualisierens genannt, die Notwendigkeit, sich immer wieder mit anderen zu arrangieren. Manche vermeiden Alleinsein weil zu diesen Gelegenheiten Heimweh, Langeweile oder Gefühle des Verlassenseins entstehen können. Das Leben im Heim wird geordnet und geregelt erlebt, sowie schulische, soziale und allgemeine erzieherische Förderung. In der Familie kann das Leben ganz global und allgemein positiver, schöner und ruhiger erlebt werden, aber mancher berichtet, zuhause genauso Streit und Konflikte zu erleben wie in der Heimgruppe, oder noch mehr. Wenn das Heim der Familie bevorzugt wird,(S: 35%, L: 67%) steht bei den Begründungen der Ausfall familiärer Funktionen im Vordergrund. Es konnte keine heimspezifisch attraktive Lebensqualität eruiert werden um derentwillen der Verbleib im Heim gewünscht würde. Unter anderen familiären Umständen würde meist ein Leben bei den Angehörigen bevorzugt. In dieser kleinen Stichprobe ergaben sich keine Hinweise, daß Befragungsalter, Einweisungsalter oder Aufenthaltsdauer in Zusam
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menhang stehen, lieber im Heim leben zu wollen oder nicht. Ausschlaggebend für die Präferenz des Wohn- und Lebensortes, die im Einzelfall auch rasch wechseln kann, erscheint die vom Zögling erlebte Gesamtsituation, seine Lage in Heim und Familie. Auch wenn das Heimleben mit Zuhausefühlen verbunden wird oder sogar das Heim als der bevorzugte Lebensort genannt wird, so ergeben sich über die Interviews prinzipielle Unterschiede zur Herkunftsfamilie in der Qualität der erlebten Zugehörigkeit.
Wohlfühlen und Zugehörigkeitserleben im Heim kann bei Konflikten und anderem emotionalen Stress rasch entschwinden, die Verbundenheit mit der Familie erscheint überdauernder und stabiler. Heimweherleben bestätigen die meisten Zöglinge, einige hingegen nicht(S: 69%, L: 80%). Heimweh wird als flüchtig geschildert. Es kann unvermutet kommen und rasch wieder verschwinden oder nach Jahren plötzlich wieder aktuell werden. Auslösend sind Konflikte und Frustrationen im Heimleben, Alleinsein und Rückkehr ins Heim nach Kontakten mit den Angehörigen. Auch wenn Erleben von Heimweh bagatellisiert oder verneint wird, so scheint es oft latent zu unterliegen.
Belegungsfluktuation
Tabelle 4 zeigt den Anteil von Neuzugängen und Entlassungen im entsprechenden Zeitraum, bezogen auf die Gruppenbelegung am 1.1. jeden Jahres. In allen Gruppen sind über Jahre erhebliche Fluktuationen bedingt durch zu und Abgänge feststellbar.
In beiden Heimen erfolgte vor der Datenerhebung eine Gruppenauflösung. Etwa ein Drittel der Gesamtstichprobe
Tab. 4: Belegungsfluktuation
s1 s2 L1 L2
Zeitraum:
1.Jahr 46% 89% 0% 57%
2.Jahr 29% 11% 29% 11%
3.Jahr 42% 37% 56% 0%(nur bis August)
mußte innerhalb des Heimes die Lebensgruppe wechseln.(S: n=7, 41%; L: n= 3, 20%; Chi?= 0,82, df= 1, n.s.) Von Zöglingen wie Personal werden die heiminternen Verlegungen belastend empfunden. Die soziale Situation ist also von hoher Instabilität gekennzeichnet.
Freiräume und Handlungsmöglichkeiten
In beiden Heimen betonen die Zöglinge die Freizeitmöglichkeiten
(S: 88%, L: 100%). In Heim S ist der Wunsch größer, mehr Zeit zur eigenen Gestaltung zur Verfügung zu haben (59%) als in L(20%). Routinen und Dienste(Abspülen, Kehren, Einkaufen etc.) werden einschränkend erlebt(S: 47%, L: 80%). Obwohl in S die Außenkontakte hochsignifikant eingeschränkter zu beurteilen sind(S: 88%, L: 20%, Chi?= 12.43, p: 0,00005), besteht bei den Zöglingen weniger der Wunsch nach mehr Umgebungszugang(S: 41%, L: 67%).
In den Interviews konnten deutliche Hinweise gefunden werden des Einflusses organisatorischer Regelungen(z.B. Nutzung des Heimgeländes, der Gruppenräume, Gruppengeld, Dienstplangestaltung) auf die Spielräume der Betreuerinnen, des einzelnen Zöglings und der Gruppe als Ganzes. Die Belegungssituation der Gruppen wirkt sich ebenfalls auf die persönlichen Spielräume aus: In großen Kollektiven muß mehr mit Eingrenzung individueller Räume zugunsten von Routineabläufen gearbeitet werden. Hohe Altersheterogenität erschwert ebenfalls Zulassen von entwicklungsadäquaten Spielräumen. Beispielsweise wird es von Jugendlichen als sehr eingrenzend erlebt, wenn am Abend absolute Ruhe herrschen soll, damit die Kleinen schlafen können. Wichtig und auch variabel erscheint die erzieherische Grundorientierung, das für angemessen befundene Maß an Frei- und Handlungsräumen, die dem Individuum zugestanden werden sollen. Hohe Bedeutung der Beaufsichtigung im Rollenverständnis der Betreuerinnen ist von einer entsprechenden Eingrenzung der
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 2, 1993