persönlichen Freiräume der Zöglinge begleitet.
Privatbereich
In beiden Heimen werden Eigentumsübergriffe oder„Verstecken“ als notwendige Sicherung persönlicher Gegenstände erwähnt(S: 88%, L: 67%). Sicherungsmöglichkeiten, private Depots, wie abschließbare Schränke und Fächer sind nur unzulänglich vorhanden. In beiden Einrichtungen ergibt sich, was den Informationsaustausch betrifft, eine sehr ungeschützte Situation für das Kind und auch für seine Familie. Selbstbestimmung und Selbstschutz privater Informationen ist in hohem Maße entzogen: Innerhalb der Gruppe, nehmen andere Personen an Leben, Vorgeschichte und familiären Vorgängen teil. Kenntnis familiärer Hintergründe anderer Zöglinge besitzen in S59% und in L 53% der Befragten. Zöglinge wie Betreuerinnen tauschen sich über die Gruppen hinweg aus, es kann unkalkulierbar sein, was in welchem Umfang anderen bekannt ist und was nicht. Der Austausch über den Einzelnen oder bestimmte Begebenheiten kann sich bis zum Gerücht auswachsen, das wie ein Lauffeuer durch die Einrichtung geht. Dabei ist nicht voraussehbar ob und wann dies der Fall sein wird und wann nicht. Gerüchtebildung erwähnen in S 47%, in L 40% der Zöglinge. Die Durchbrechung privater Bereiche wie Eigentumsübergriffe, Weitererzählen und Gerüchtebildungen, wird von den Kindern und Jugendlichen nicht gewünscht sondern als unangenehm und ärgerlich erlebt.
Oft wird Verletzung des Privatbereichs subjektiv gar nicht so erlebt. Die Kinder und Jugendlichen unterliegen häufig Illusionen und sehen sich und ihre persönlichen Angelegenheiten geschützter, erleben Mitzöglinge und Betreuerinnen verschwiegener als es tatsächlich der Fall ist, so daß offensichtliche Widersprüche entstehen(S: 47%, L: 40%).
Individuelle Erziehung
In den Einweisungsunterlagen der Jugendämter fanden sich keine oder nur sehr allgemeine Aufträge an die Heimerziehung. Es mangelte an klarer, spezifischer Formulierung von Zielen, Erwartungen und Aufträgen an die Betreuung im Heim. Von den Betreuerinnen wird zwar angegeben, zum Einzelfall Überlegungen anzustellen, die praktische Umsetzung im Alltag erscheint allerdings mangelhaft. Besonders die konkreten Fallbeispiele im Rahmen der Funktionsträgerbefragung belegen, daß Planung, die an der Gesamtsituation des Kindes orientiert ist und nicht nur am Lebensfeld Heim, entweder gar nicht erstellt wird oder rasch im Erziehungsalltag untergeht. Die Perspektive der Betreuerinnen erscheint vorwiegend auf aktuell anliegende Schwierigkeiten gerichtet, mit denen sie selber tagtäglich konfrontiert sind. Es werden nur Teilaspekte der kindlichen Situation versucht anzugehen und zwar vorwiegend solche, die die Betreuerinnen belasten.
Weniger fokussiert erscheint, was das Kind beschäftigt und bedrückt. Umsetzung und Konkretisierung individuumbezogener spezifischer Maßnahmen stößt im Heimalltag auf erhebliche Schwierigkeiten, teils aus den Rahmenbedingungen der Arbeit heraus(wenig Zeit für den Einzelnen) teils auch wegen der Reaktionen der Kinder, wenn individualisierend und differenzierend erzogen wird. Manche Zöglinge reagieren störend oder mit Unverständnis, wenn ein bestimmtes Kind persönliche Ansprache erhält oder wenn sich Erziehungsmaßnahmen nicht an äußeren Merkmalen(Alter, Schulklasse etc.) sondern am individuellen Entwicklungsstand orientieren. Teils heftig störende Interventionen der Kinder können individuumzentriertes Handeln der Betreuerinnen entmutigen.
Manche Kinder und Jugendliche wiederum scheinen individuelle persönliche Zuwendung gar nicht zu schätzen, bieten Widerstand oder ziehen sich zurück. Auch der Funktionsträger hat seinerseits Gelegenheiten, sich von einem Zögling zurückzuziehen und unangenehmem
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 2, 1993
Manfred Spindler- Leben im Heim
Kontakt auszuweichen, da genügend andere Beschäftigungsmöglichkeiten vorhanden sind.
Bedeutung der Familie
In Heim L äußern leicht signifikant mehr Zöglinge Kritik an ihren Eltern als in Heim S(S: 35%, L:73%, Chi?= 3,23, p: 0,10). Tendenziell verneinen mehr Kinder und Jugendliche In Heim S (65%), sich von den Eltern abgeschoben oder im Stich gelassen zu fühlen als in L (33%). Von der Gesamtstichprobe mit 32 Kindern und Jugendlichen sehen sich 5 Zöglinge(16%) von einem Elternteil abgeschoben, vom anderen hingegen nicht. Wenn zwischen den Eltern unterschieden wird, dann fühlen sie sich von demjenigen im Stich gelassen, zu dem kein Kontakt mehr besteht, oder mit dem sie sich schon von jeher weniger gut verstanden haben. Im Interviewteil zur Überschneidung von Heim und Familie verdichtete sich der Eindruck, daß Heimkinder auch nach vielen Jahren immer noch engagiert am Familienleben teilnehmen können. Sorgen und Probleme können sich um die Familie drehen und ein Kind kann in familiäre Dynamiken weiterhin einbezogen sein oder bleiben, auch wenn es im Heim lebt. Die als positiv erlebten und gesuchten spezifischen Familienqualitäten beziehen sich nicht auf Familie an sich, sondern auf die eigene Herkunftsfamilie. Wird Abgeschobensein erlebt, so kann dies mit schweren Selbstwerteinbußen verbunden sein. Schon die Tatsachen im Heim leben zu müssen und nicht in der Familie kann als schwer belastend empfunden werden bis hin zur Infragestellung der eigenen Existenzberechtigung. Werden rational Vorteile erkannt die ein Leben im Heim bietet oder der Familie gegenüber Enttäuschung, Kritik oder Verbitterung deutlich, so muß dies nicht bedeuten, daß nicht eine intakte Herkunftsfamilie und ein Leben in ihr gewünscht würde. Auch in Familien, in denen die Zöglinge selber nicht mehr leben wollen, können Reste spezifisch familiärer Einbindungserfahrungen möglich und gesucht sein.
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