bemächtigt“(S. 57), wobei eine„sich andeutende nachmilitärische Machtergreifung der Technik-Industrie über Medizin, Ethik und Recht durch den Tötungsethik-Diskurs“ (S. 60) zu konstatieren ist.
Bei der sogenannten'"Euthanasie-Debatte' geht es für Rest also weniger um Fragen der Normenbegründung oder um die Klärung kontrovers diskutierter Fragestellungen. Vielmehr gibt es ein„Komplott der sog. Sterbehelfer mit den Abtreibern, den Euthanasiasten und den Bioethikern, Gentechnologen, Reproduktionsmedizinern und den Utilitaristen; ihr Ziel ist es, dem Mut zu einer rückhaltlosen Lebensbejahung das Wasser abzugraben“(S. 39, vgl. S. 30, 35). Wenn dem aber so ist, dann verliert die argumentative Auseinandersetzung mit den Befürwortern einer Euthanasie ihren Sinn. Die Auseinandersetzung mit ihnen ist vielmehr, wie es Rest unter Berufung auf den Zeit-Lebensbrief Feusers fordert, ein 'Kampf‘:„Unsere wichtigste Alternative bedeutet demnach der Kampf, ein Begriff, welcher in einer satten Gesellschaft eigentlich nicht mehr verwendet werden darf. Deshalb wurde der»Kampf« gegen die Tötungsethik immer sogleich als Angriff auf die Grundrechte der Meinungsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit und dergleichen diskriminiert“ (S. 39). Die Auseinandersetzung mit der Tötungsethik ist also ein'Kampf' gegen ein 'Komplott', wobei es bei dieser Sichtweise des Problems nicht verwunderlich ist, daß Rests Auseinandersetzung mit den Vertretern der kritisierten Positionen durch den aus anderen Veröffentlichungen zu diesem Thema bereits hinlänglich bekannten großzügigen Umgang mit Argumenten gekennzeichnet ist.
Wenn also der erste— bei weitem umfangreichere— Teil des Buches diesem'Kampf" gewidmet ist, so besteht der zweite Teil aus dem Versuch, der'Tötungsethik' eine'Lebensethik' entgegenzusetzen, welche ihrerseits durch zwei Argumentationskomplexe begründet werden soll: durch eine Vervielfachung des Bewußtseinsbegriffs und durch die Überwindung der Verdrängung des Todes.
Rest vertritt die Annahme, daß zumindest von vier'Bewußtseinen' des Menschen gesprochen werden muß(S. 88ff.). Diese Annahme ist direkt gegen die verschiedenen medizinischen oder auch philosophischen Versuche gerichtet, Merkmale des Bewußtseins als Kriterien für— menschliches— Leben, für sinnvolles Leben oder für Personalität heranzuziehen. Diesen Versuchen wirft Rest eine„völlige Fixierung auf die enze
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phalen Bedingungen von Bewußtsein“ vor, die„prompt zur Freigabe aller enzephal Geschädigten zur Organ-Erntung bzw. zum Tötungs-Übungsfeld“ führt(S. 84). Eine derartige, auf einer„rationalisierte[n] bzw. auf dem Enzephalismus der»analytischen Philosophie«“ beruhende Sichtweise ist widerlegt und überholt(S. 87). Es muß vielmehr zwischen dem"rationalen Bewußtsein', dem "Unterbewußtsein', dem'(kollektiven) Gedächtnis und dem'Nebenbewußtsein' unterschieden werden(S. 91ff.).
Mit dieser grundsätzlich erweiterbaren Aufzählung spricht Rest zweifelsohne die vielfach nicht reflektierte Problematik des Bewußtseinsbegriffs an. Es sei allerdings angemerkt, daß er sich mit dieser Argumentation auch die— übrigens nicht zuletzt durch die analytische Philosophie aufgedeckten— Begründungsprobleme der von ihm heftig kritisierten Positionen einhandelt, da sich zumindest die Fragen stellen, wie die Existenz dieser'Bewußtseine' nachgewiesen werden soll, und ob die hieraus zu ziehenden ethischen Schlußfolgerungen nicht auch auf einem naturalistischen Fehlschluß beruhen.
Tatsächlich ist Rest hinsichtlich der zu ziehenden ethischen Schlußfolgerungen eher vorsichtig. Vielmehr dienen seine Ausführungen in Überleitung auf den zweiten Argumentationszusammenhang der Überwindung von Ausgrenzungen, die mit dem Verweis auf das fehlende rationale Bewußtsein begründet werden sollen:„Im Übergang zum Leben und im Übergang vom Leben in den Tod erfolgt also eine Umwandlung unseres Bewußtseinszustandes[...]. In unserer Fixiertheit auf das rationale Bewußtsein sind wir philosophisch ausgedrückt eben überhaupt nicht im Bewußt-Sein, sondern lediglich im Bewußt-Haben“(S. 100).'Tötungsethik', Euthanasie-, Sterbehilfe- und Teile der Abtreibungsdebatte beruhen im Grunde auf einer mit der Fixierung auf das rationale Bewußtsein begründeten Verdrängung des Todes und des Leids und auf einer Aussonderung Sterbender und Leidender. Hier bringt Rest(S. 101ff.) einen zwar nicht unbedingt als theologisch, so doch aber als religiös zu bezeichnenden Standpunkt zur Geltung, indem er darauf verweist, daß es ethisch geboten ist, Sterbende und Leidende in ihrem Sterben und Leid anzunehmen, und sich ihnen zuzuwenden. Das von Rest geforderte'neue Denken' ist ein Denken„das sich beschenken läßt; wer so denkt, geht nicht den Leidenden und Sterbenden aus dem Wege[...], sondern läßt sich auf diese Menschen ein, auch auf die Gefahr hin, daß
Buchbesprechungen
er dabei etwas lernen wird, wovon er bislang nicht zu träumen wagte, daß sich nämlich Krankheit, Behinderung, Sterben usw. auch lohnen können“(S. 132).
Wenn man dieser Auffassung Rests folgt, dann scheint ein bisher nicht hinreichend zur Geltung gebrachter Aspekt der Debatten um mögliche Einschränkungen des allgemeinen Tötungsverbotes tatsächlich darin zu liegen, daß ihnen untergründig eine durch gesellschaftliche, politische und medizinische Entwicklungen forcierte zunehmende Einengung des'Normalen' und des'Gesunden' zugrunde liegt. Es wird zunehmend schwieriger, die notwendige Orientierung auf die Gesundheit oder die Normalität mit der Annahme der Abweichung, des Leids und des Todes zu vereinbaren.
Für Rest beruht diese Schwierigkeit darauf, daß in der Literatur zumeist„nicht zwischen Leid und Leiden unterschieden[wird — MS], und beide werden mit Schmerzen, Ungerechtigkeit, Krankheit, Behinderung gleichgesetzt. Aber das ist entweder ein Mangel an Differenzierung oder vereinfachende Absicht.[...]»Leid« ist ein Existential, d.h. eine konstitutive Größe, ein Merkmal der menschlichen Person: Der Mensch hat ein Leiden, er ist aber in gewisser Weise ein Leid.[...]»Leid« und»Leiden« entstammen sogar ganz unterschiedlichen Sprachwurzeln: Das eine gehört dem Menschen, das andere wurde ihm angetan. Im Leid ist der Mensch aktiv, im Leiden ist er ein Opfer“(S. 122).
Rest bringt demnach gegen die von Singer und anderen angestrebte Bewertung eines Zustandes, einer Krankheit oder einer Schädigung den Aspekt der Beziehung zu dem Kranken, dem Sterbenden und die Frage nach der Bedeutung dieses Zustandes oder dieser Krankheit für den direkt Betroffenen zur Geltung. Dadurch ändert sich die Entscheidungsgrundlage der Fragen um Leben und Tod, weil sie sich nicht mehr auf Merkmale von Krankheiten und Schädigungen beschränkt, sondern weil jetzt auch ausdrücklich die existenzielle Dimension dieser Fragestellungen manifest wird. Wie den meisten, die sich ernsthaft mit diesen Themenbereichen auseinandersetzen, ist es Rest allerdings bewußt, daß sich auch bei dieser Erweiterung der Entscheidungsgrundlage die Notwendigkeit von Entscheidungen über Leben und Tod nicht gänzlich aufhebt, sondern daß sie sich auch weiterhin stellen wird. Im Unterschied zu den'Tötungsethiken' will Rest diese Entscheidungen aber nicht als Anwendungen allgemeiner Regeln, sondern ausschließlich bezogen auf den Einzelfall
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 1, 1993