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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Konzentrationsprobleme

Fehldiagnose oder Zeitkrankheit?

Von Eduard W. Kleber und Roland A. Stein

Konzentration ist ein psychologisches Konstrukt, das hochkomplexe Interaktions-Situations-Phänomene be­zeichnet. Die hohe Komplexität läßt unmittelbare Fol­gerungen für therapeutische Maßnahmen nicht zu und enthält spezielle Probleme der Validität bei niedrigen Leistungswerten in Tests. Die Diagnose von Konzentra­tionsproblemen dient nicht selten Lehrern, Schülern und Eltern als Entlastung. Dabei führen oberflächliche Ana­lysen oft zu Mißverständnissen und Fehldiagnosen. Bei solchen Diagnosen werden dann Konzentration, Inter­esse, Motivation, Belastbarkeit,aus dem Felde gehen undauswandern konfundiert. Ohne eine sorgfältige und möglichst umfassende Analyse der Aufmerksam­keitssituation können Maßnahmen zur Beseitigung oder Reduktion der Schwierigkeiten nicht effektiv ausgewählt werden.

SG

Concentration is a psychological construct characteriz­ing highly complex phenomena of interaction-situation. This high complexity does not allow direct deductions to be used for therapeutical measures and contains special problems of validity when low test ranges occur. Frequently the diagnosis of a weakness in concentra­tion is used to relieve teachers, pupils and parents. Due to this superficial analyses often lead to misunderstand­ings and wrong diagnoses. In such diagnoses concen­tration, interest, motivation, stress capacity,leaving the field andemigration are confused with one another. Measures for removal or reduction of concen­tration deficits cannot be chosen in an effective manner without an analysis of the situation in which attention is being payed- an analysis as careful and as extensive as possible.

Einleitung

Allenthalben ist davon die Rede, die Konzentrationsfähigkeit der Schüler habe nachgelassen; längerfristiges und ununterbrochenes Sich-Befassen mit ei­nem Lerngegenstand sei schwer gestört oder gar unmöglich. Sowohl die laien­psychologischen als auch die professio­nell-diagnostischen Feststellungen von Konzentrationsstörungen bei Schülern nehmen zu. So werden in einer Arbeit von Frederking(zitiert in Rapp 1982, 32) nach Untersuchung einer Stichpro­be Zehnjähriger 63% dieser Kinder als unkonzentriert bezeichnet. Die Zunah­me solcher mehr oder weniger fundier­ter Diagnosen fügt sich nahtlos ein in den allgemeinen Rahmen gesellschaft­licher Tendenzen, mehr und mehr aus­zugrenzen, auszusondern und zu psychia­trisieren. Beispielhaft sei auf die wach­sende Psychiatrisierung bei Kriminal­fällen verwiesen sowie auch auf die Ver­

Behinderung von Menschen, die be­stimmten gesellschaftlichen Anforderun­gen(v.a. im Bereich Beruf und Ausbil­dung) nicht mehr gerecht werden.

Bei dem Begriff derKonzentration handelt es sich um einen der am weite­sten verbreiteten theoretischen Begriffe der Pädagogik, während andererseits vie­le psychologische Modelle auf diesen Terminus gerade verzichten z.B. und vor allem die Verhaltenspsychologie. So findet sich der Begriff in einem klassi­schen Lehrbuch der Allgemeinen Psy­chologie(Lindsay& Norman 1981) kein einziges Mal. Auch Luria(1992) arbei­tet(im neuropsychologischen Bereich) ausschließlich mit dem TerminusAuf­merksamkeit. Eine Vermeidung des Begriffes der Konzentration(und folg­lich jenes der Konzentrations-Störungen) liegt sicher hauptsächlich darin begrün­det, daß es sich hier um ein theoreti­sches Konstrukt handelt, dessen Objek­tivität und Erfaßbarkeit umstritten wa­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 4, 1993

ren und sind und das sich bei genaue­rer Betrachtung in eine komplexe Fülle von Bedingungen auflöst. Dieser Kom­plexität werden die gewählten Wege, das KonstruktKonzentration ein- und umzusetzen, nur höchst selten gerecht. Die Schilderung von Konzentrations­problemen bei Kindern findet man na­hezu ausschließlich für Lernsituationen. Dies ist an sich schon aufschlußreich, denn die oft festgestellteKonzentra­tionsschwäche als gravierendes, über­dauerndes Phänomen(Rapp 1982, 25) müßte im Grunde kraft Definition auch außerhalb schulischer Lernsituationen feststellbar sein was sie i.d.R. nicht ist. Letztlich besitzt die Zuschreibung fehlender Konzentration häufig entla­stenden Charakter: ist ein Schüler kon­zentrationsschwach, dann ist er nicht notwendig dumm oder faul(Entlastung für Eltern und Schüler), und auch der Lehrer hat nicht unbedingt schlecht ge­arbeitet. Das schulische Versagen liegt

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