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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Eduard W. Kleber und Roland A. Stein* Konzentrationsprobleme Fehldiagnose oder Zeitkrankheit

ja eben in derKonzentrationsschwä­che begründet. Eine Therapie, ein Trai­ning derKonzentrationsfähigkeit wird eingesetzt, und eine ernsthafte, gründli­che Analyse der(schulischen) Situation, in der das Problem auftritt, findet damit häufig nicht statt. Die Frage, ob und in welchen Fällen es sinnvoll sein kann, die Konzentration zu trainieren oder andere Maßnahmen zu ergreifen, kann nur über eine Klärung dessen beantwor­tet werden, was denn Konzentration ist und wovon ihre Qualität abhängt.

Definition und Bedeutungsumfeld

In psychologischer Literatur findet der Begriff derAufmerksamkeit deutlich weitere Verbreitung als jener derKon­zentration. Die wesentlichsten Merk­male von Aufmerksamkeit umreißt Rapp (1982, 21) wie folgt: Aufmerksamkeit kann bezeichnet wer­den als der Prozeß der Auseinanderset­zung mit realen oder vorgestellten Ob­jekten, der durch externe Reizmerkmale (Neuigkeit, Überraschung) oder durch in­terne Prozesse(Einstellungen, willent­liche Entscheidungen) ausgelöst wird und der die Funktion der Auswahl(aus dem Reizangebot), der Intensivierung der rea­len oder kognitiven Tätigkeiten und eine Verbesserung ihrer Produkte hat. Hinsichtlich des Zusammenhanges zwi­schen Konzentration und Aufmerksam­keit sowie der Abgrenzung beider Be­griffe existieren höchst unterschiedliche Modelle und Vorstellungen. Letztlich skizzieren Janssen& Strang(1991, 2) den Umgang mit beiden Begriffen recht zutreffend als oftzirkulär: Der eine wird häufig mit Hilfe des anderen defi­niert. Aufmerksamkeitssituationen können durch einen starken Reiz auch unwill­kürlich ausgelöst werden. Wygotskij (dargestellt bei Luria 1992, 265) geht davon aus, daß jenseits elementarer Ori­entierungsreaktionen die höheren For­men der Aufmerksamkeit, von denen wir hier sprechen, gesellschaftlich be­dingt sind und nicht biologisch. Durch soziale Kommunikation werde die kind­liche Aufmerksamkeit gelenkt. Diese

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Lenkung wird später durch die Sprach­entwicklung verinnerlicht; das Indivi­duum lenkt nun selbst seine Aufmerk­samkeit. Insofern scheint es durchaus sinnvoll, für die höheren, spezifisch ge­richteten Formen der Aufmerksamkeit den Begriff derKonzentration einzu­setzen und somit beide einmal durch die Intensität, zum zweiten durch die Willkürlichkeit zu unterscheiden. Reu­lecke(in Janssen& Hahn 1991) diffe­renziert die drei Valenzen Energie, Funktion und Präzision. Von anderer, negativer Seite kann man Konzentrati­on als die Fähigkeit zum Ausblenden von störenden Reizen betrachten(Berg 1991).Erst im Alter zwischen vierein­halb und fünf ist die Fähigkeit zur Be­folgung einer Instruktion stark genug, um eine dominierende Verbindung zwi­schen der Instruktion und dem Gegen­stand hervorzurufen...(Luria 1992, 267) zu dieser organismischen Bereit­schaft tritt das soziale Moment, indem Partner Aufmerksamkeitssituationen herstellen.

Rapp nennt verschiedene Unterschei­dungen von Aufmerksamkeit(1982, 11ff.). Er führt geistige Konzentration, Vigilanz/Daueraufmerksamkeit, selek­tive Aufmerksamkeit, Aktivierung, Ein­stellung und Orientierungsreaktionen auf, wobei insbesondere Vigilanz und divided attention(Aufmerksamkeits­teilung) aus naheliegenden Gründen besondereAufmerksamkeit von sei­ten der Wirtschaft und des Militärs er­fuhren.

Die Beschreibung der basalen Aspekte einer Konzentrationssituation kann am treffendsten über zwei Begriffe aus der Gestalttheorie erfolgen. In schulischen Lernsituationen ist das soziale Moment besonders stark ausgeprägt, indem hier eine Lehrperson zwischen lernendem Individuum und den Objekten der Kon­zentration, den Lerngegenständen, ver­mittelt. Die in solchen Situationen statt­findenden Prozesse faßt der gestalttheo­retische BegriffKontakt zusammen. Kontakte beruhen auf aktiver Entschei­dung und Handlung des Individuums; sie finden an der Grenze im Organis­mus/Umwelt-Feld statt, indem das Indi­viduum sich gegenüber dem Äußeren

öffnet, ohne seine Eigenidentität auf­

zulösen(Perls, Hefferline& Goodman

1981). Dabei stellt sich die Konzen­

trationssituation, um in dieser Termino­

logie zu bleiben, als ein Figur-Grund­

Phänomen dar: Ein bestimmter Aspekt

einer Situation wird zurFigur, alle

anderen Aspekte des Lernfeldes bleiben

Grund. Im Sinne der Eigenverantwort­

lichkeit des Individuums sind Motivati­

on und Interesse für die Herauslösung einer Figur aus dem Grund, mithin also das Entstehen einer Konzentrationssi­tuation unabdingbar. Es spielen jedoch auch die in der Kindheit nach Wygots­kijs Verständnis erfolgten Lernprozesse eine gewichtige Rolle: Einen wie gerin­gen Figur-Grund-Kontrast kann ein

Mensch in einer Konzentrations-Situa­

tion noch in Form von Konzentration

auf die Figur, das Objekt der Aufmerk­samkeit, aufrechterhalten?

Insofern kann unabhängig von Situatio­

nen von einer gewissen Fähigkeit zur

Konzentration gesprochen werden dem

Konstrukt wohnen also nebenstate-

auchtrait-Aspekte inne. Diese letzte­

ren sind durch drei Bedingungen be­stimmbar

Mögliche organische Einschränkun­gen(neurologischer Art oder die Wahrnehmung betreffend),

Entwicklungs- und Sozialisations­defizite(vgl. Wygotskijs Vorstellun­gen weiter oben) sowie

aufgebaute Strukturen, welche die Assimilation neuer Umweltaspekte (Konzentrationsobjekte) erleichtern.

Jenseits dieser Aspekte handelt es sich

bei der Konzentration um eine situa­

tionsabhängige Selektion die sehr un­terschiedlich erfolgen kann, aber nicht gut oder schlecht, da sie auf natürliche

Weise stattfindet und sich insofern ei­

ner weiteren Bewertung entzieht.

Das Bedingungsfeld für Konzentration in schulischen Lernsituationen

In Anbetracht der Komplexität einer Konzentrationssituation im schulischen Lermfeld kann eine Beschreibung nur sinnvoll unter ökologisch-systemischer

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 4, 1993