Günzburg+ Aufgabenorientierte Persönlichkeitsentwicklung
1991) weisen deutlich auf die jetzt sichtbar gewordene Gefahr hin, daß nämlich Anstaltsdenken,-handeln,-gewohnheiten und-traditionen auch in kleinen Gruppenheimen in der offenen Gemeinschaft wieder aufkommen können. Das Weiterbestehen dieser Tendenzen kann teilweise damit erklärt werden, daß die offene Gemeinschaft in vieler Hinsicht nicht das Expertenwissen und die Mittel besitzt, die nötig wären, um mit einer Reihe von Problemkomplexen fertig zu werden. In der Abgeschiedenheit einer Anstalt wurden diese Problemkomplexe bishermehrschlechtals recht bewältigt. Die Micro-Institutionalisierung ist aber auch zum großen Teil auf Mitarbeiter zurück zuführen. Mitarbeiter, die mit traditionellen Vorgehensweisen vermeinen, Probleme leichter bewältigen zu können, für die es schwer ist, mit neuen Möglichkeiten zu experimentieren und die sich rigoroser Kontrolle entziehen, die feststellen soll, ob ihre Vorgehensweise auch die gewünschten Ergebnisse erzielt.
Das”reformierte” klinische Modell(Modell I)
Das"industrielle" Training in der Arbeit
Nach Beendigung des zweiten Weltkrieges und mit der Einführung des Nationalen Gesundheitsdienstes wurden fast alle Anstalten für geistig behinderte Menschen in Großbritannien Teil eines unentgeltlichen Gesundheitsdienstes. Sie wurden als Krankenhäuser und die dort “aufbewahrten” Menschen als“Patienten” betrachtet. Die Probleme wurden vom medizinischen Gesichtspunkt aus gesehen, die Betreuung wurde nach einem klinisch-psychiatrischen Gesichtspunkt durchgeführt und vom Arzt, der auch als Leiter dem Krankenhaus vorstand, verordnet. Erst zu einem späteren Zeitpunkt kam es zu einer Dreiteilung der Machtsphären. Arzt, Oberschwester und Verwalter bildeten ein Triumvirat, das die Geschicke in kleinen und großen Krankenhäusern, mit hundert bis weit über tausend“Patienten”, lenkte. Das Pflegepersonal war nicht nur für die me
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dizinische Betreuung verantwortlich, sondern auch für die Beschäftigung der“Patienten”” an eigens dafür eingerichteten Arbeitsplätzen wie z.B. dem Korbflechten, der Herstellung von Bürsten, der Agrarwirtschaft und dem Gartenbau.
Bahnbrechende Arbeit der Psychologen in den 50er Jahren
Noch bevor die ersten skandinavischen Ideen der“Normalisierung” publiziert wurden, hatte die Ernennung einiger Psychologen durch zwei oder drei weitsichtige ärztliche Direktoren in den 50er und 60er Jahren unvorhergesehene Folgen. Die Psychologen beschäftigten sich nämlich nicht nur mit Intelligenzmessungen, sondern publizierten auch begründete Zweifel an der Zulässigkeit, Verläßlichkeit und dem Wert dieser traditionellen “Diagnose”(Clarke& Clarke 1954, 1959). Ihre weiteren Untersuchungen demonstrierten unter anderem, daß Schwerund Schwerstbehinderte in“normale” Arbeitsprozesse eingegliedert werden konnten, wenn der Arbeitsverlauf gewisse wissenschaftlich niedergelegte Bedingungen erfüllte(Tizard& O’Connor 1952; Clarke& Clarke 1958).
Diese Forschungsresultate und das erste psychologische Lehrbuch über geistige Behinderung(siehe die ersten zwei Auflagen von Clarke& Clarke 1958, 1965) hatten im Laufe der Zeit weitreichende Folgen und führten zu bedeutsamen Veränderungen in den Behandlungsweisen. Denn geistige Behinderung war bis zu diesem Zeitpunkt ein Gebiet, das hauptsächlich vom rein medizinischen Standpunkt behandelt worden war.
In einzelnen Anstalten wurden die experimentellen Untersuchungen der Psychologen durch die Erkenntnis anderer Mitarbeiter unterstützt, daß das Bürstenbinden, Korbflechten, Matten herstellen usw. keine zweckdienliche Vorbereitung für den industriellen Arbeitsmarkt war. Mitarbeiter wiesen darauf hin, daß viele “Patienten” innerhalb der Anstalt beachtenswerte Arbeitsleistungen zeigten und diese sehr wahrscheinlich auch außerhalb der Anstalt erreichen könnten. Die Untersuchungen von Clarke& Clarke
(1954), Tizard& O’Connor(1950) und Günzburg(1950, 1958) hatten gezeigt, daß die“Patienten” imstande waren Leistungen zu vollbringen, die durchaus mit der Arbeit in Fabriken vergleichbar waren.
Von der Beschäftigungstherapie zum Training für die industrielle Arbeit
Die Wandlung von der Beschäftigungstherapie zur industriellen Arbeit innerhalb des Anstaltsbetriebes war nicht einfach, da die neuen Anforderungen mit den gewohnten Methoden nicht erfüllt werden konnten. Die Mitarbeiter waren meistens ehemalige Handwerker. Sie hatten wenig Verständnis für die psychologischen Vorschläge und wohl auch nicht die notwendige Vorbildung, um Weisungen sinngemäß entsprechen zu können. Trotzdem war ihnen klar, daß sie einen Arbeitsprozeß zu organisieren hatten, der sich unter den gegebenen Umständen so weit wie möglich eng an normale Vorgänge in der Industrie anlehnen sollte. Diese Maßnahmen wurden von fortschrittlich gesinnten Anstaltsleitern angenommen und verdrängten die herkömmlichen Beschäftigungen trotz interner Schwierigkeiten.
Die Einseitigkeitdieses Vorgehens machte viele dieser Werkstätten zu industriellen Beschäftigungsstellen für“Roboter”. Dies wurde relativ schnell kritisiert, aber auch heute noch ist es notwendig, auf die Nachteile des sogenannten“Arbeitstrainings” ausdrücklich hinzuweisen(Todd et al. 1991).
Oberflächlich gesehen waren die Erfolge der neuen Methoden des Arbeitstrainings bedeutend. Für viele Behinderte konnten Arbeitsplätze in Fabriken und Werkstätten gefunden werden. Dort arbeiteten sie tagsüber und kehrten nach der Arbeit wieder in die Anstalt zurück. Diese Erfolge waren aber nur teilweise dem Arbeitstraining zuzuschreiben, da sie zu einem Großteil dem guten Arbeitsmarkt zu verdanken waren, der zu dieser Zeit Hilfsarbeiter brauchte. Ein weiterer Grund für die Erfolge lag in der unleugbaren Tatsache, daß es in den Anstalten für
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVIIL, Heft 1, 1992