Günzburg+ Aufgabenorientierte Persönlichkeitsentwicklung
geistig Behinderte damals sehr viele Grenzfälle und mäßig Behinderte gab, die nun endlich Gelegenheit hatten, sich in normalen Situationen zu bewähren.
Die“Anstalt” als eine“normalisierende Übergangsphase”
Die steigende Zahl der“Patienten”, die einen zufriedenstellenden Platz auf dem öffentlichen Arbeitsmarkt gefunden hatten, erhöhte die Hoffnung, daß diese in absehbarer Zeit auch das Krankenhaus verlassen würden. Gegen eine Eingliederung in die offene Gemeinschaft sprach jedoch der Umstand, daß viele dieser sehr erfolgreichen Arbeiter nichtsdestoweniger ihren Arbeitsplatz verloren, weil die Arbeitgeber sich nicht mit ihren gewissen Persönlichkeitsschwächen(Earl 1961) abfinden konnten. Viele Patienten wurden mürrisch, verbal aggressiv unansprechbar unverläßlich und kamen unregelmäßig zur Arbeit. Psychologische Untersuchungen deuteten darauf hin, daß die Labilität vieler, sonst recht erfolgreicher Behinderter mit sozialen und schulischen Minderwertigkeitsgefühlen zusammenhing. Die Minderwertigkeitsgefühle waren entweder die unmittelbare Ursache von Verhaltensstörungen oder vergrößerten diese beträchtlich. Eine differenzierte Analyse des Schulwissens und Könnens dieser mäßig behinderten Erwachsenengruppe stellte nicht nur einen großen Prozentsatz Analphabeten fest, sondern auch ihre erschreckende Ignoranz gegenüber ganz alltäglichen Gesellschaftsregeln und Gewohnheiten. Das machte sich in vielen Situationen bemerkbar, z.B. beim Einkaufen, beim Benutzen eines Postamtes oder einer Arbeitsvermittlung. Die Behinderten, die sich nach oft jahrelangem Aufenthalt im “Krankenhaus” in der fremdartigen normalen Welt zurechtfinden mußten, hatten nicht nur berechtigte Angst, als“Idioten” angesehen und ausgelacht zu werden. Es bestand auch die Angst, mit Situationen außerhalb der Arbeit nicht fertig zu werden, wie z.B. rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Ihr oft kratzbürstiges Benehmen war eine Reaktion darauf (Günzburg 1960).
Einführung von“Sozialer Erziehung”
Die Behandlung dieser Persönlichkeitsschwächen schien am erfolgversprechendsten, indem man den“Patienten” die fehlenden Kenntnisse lehrte und sich dabei nicht nur auf die Kulturtechniken von Lesen, Schreiben und Rechnen beschränkte. Sie mußten auch mit Alltagssituationen, wie dem Einkaufen und für sich selbst sorgen, vertraut gemacht werden. In Anbetracht der neuartigen Situation mußten Lehrtechniken entwickelt werden, die darauf Rücksicht nahmen, daß im Arbeitsprozeß stehende Erwachsene oft nicht mit Enthusiasmus auf die Rückkehr zur Schulbank reagieren. AuBßerdem konnte das“Krankenhaus” in keiner Weise zu einem Lehrinstitut umgekrempelt werden.
Esentwickelte sich nun, als unmittelbare Ergänzung des unvollständigen und unwirksamen Arbeitstrainings, eine pädagogische Förderung, die konkrete Lebensfertigkeiten vermittelte und dadurch gewisse destabilisierende Faktoren in der Persönlichkeit des behinderten Menschen verringern sollte. Dieses Vorgehen wurde nicht als eine Behandlung der schwachen und unzureichenden Persönlichkeit des Behinderten betrachtet, sondern als eine Art sozialpädagogischer Erste Hilfe, die dem Behinderten während der ersten unsicheren Schritte in die weite Welt beistehen sollte(Günzburg 1960, 1968). Im Zuge dieser Bestrebungen wurden Lektionen und Kurse organisiert, die das Arbeitstrainig ergänzen sollten. Solange es nur um verhältnismäßig kleine Wissenslücken bei den vielen Grenzfällen ging, konnte dies bis zu einem gewissen Grade bewerkstelligt werden. Die Aufgabe wurde fast unbewältigbar, als es darum ging, nur mit Hilfe von Lektionen und Kursen denjenigen Schwerbehinderten, die lange Zeit in der Anstalt verbracht hatten oder mit besonders schweren Lernschwierigkeiten zu kämpfen hatten, Wissen und Können zu vermitteln.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1992
Die“normalisierende” Aufgabe des Krankenhauses
Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, war das“Krankenhaus” nicht länger nur ein Aufbewahrungsort für die große Mehrheit Schwerbehinderter. Es war auch ein Platz, an dem der systematische Versuch gemacht wurde, behinderte Menschen auf ein Leben in der offenen Gemeinschaft vorzubereiten. Es schien also möglich, die“Anstalt” in dieser Zeit der “Normalisierung” in diesem Sinne zu benutzen(Günzburg 1979). Trotzdem erwies es sich als notwendig, eine Art Übergangsphase zum Normalleben einzuschieben, da gewisse gesetzlich vorgeschriebene Anstaltsregeln und Vorschriften mit dem Leben“draußen” einfach unvereinbar waren. Es wurden daher Wohnheime außerhalb der Anstaltsgrenzen geschaffen, die ein freieres Leben und den Erwerb von“normalen” Lebensfertigkeiten für die Bewohner, die aber nach wie vor Patienten des Krankenhauses blieben, ermöglichten(Günzburg 1975; Martin& Oliver 1986).
Diese experimentellen Versuche, die Anstalten zu reformieren, wurden aber bald durch eine neue Gesetzgebung beendet. Die Zahl der Anstalten wurde auf ein Minimum reduziert und die weitere Versorgung der Menschen mit geistiger Behinderung den öffentlichen Stellen für Sozialwesen übergeben.
Das sozial-industrielle Modell in der offenen Gemeinschaft (Modell IT)
Wohnstätten in der offenen Gemeinschaft
Die schwierigste Aufgabe für die neue Verwaltung war die Notwendigkeit, für tausende Behinderte Wohnplätze mit normalen Lebensbedingungen zu schaffen und dennoch die Entwicklung von neuen, wenn auch kleineren Institutionen zu vermeiden(Kushlick 1966, 1974). Zur gleichen Zeit war es aber auch notwendig, für die aus den Anstalten entlassenen“Patienten” Arbeit und Beschäftigung zu besorgen. Und darüber hinaus
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