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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Günzburg+

waren Mitarbeiter auszubilden und zu organisieren, die die neuen Ideen reali­sieren konnten. Alle diese Aufgaben wurden den Sozialarbeitern übergeben, die, mit der Unterstützung anderer Be­rufsgruppen, neue Lebensbedingungen für Ex-Patienten schaffen sollten. Diese einschneidenden Änderungen waren zu einem Großteil vom sozialen Gewis­sen diktiert. Waren doch geistig Behin­derte in der vorhergehenden Ära einer oft lebenslänglichen, allzu kargen und oft unwürdigen Krankenhausbetreuung un­terworfen worden. Diese war mit Recht auf heftige Kritik gestoßen und sollte auf keinen Fall wiederholt werden. Es waren aber auch wissenschaftliche Untersu­chungen vorhanden, die darauf hinwie­sen, daß normale Lebensverhältnisse ei­nen positiven Einfluß auf das Verhalten von Behinderten haben. Eine merkbare Verbesserung der sozialen Fähigkeiten der Behinderten war daher durch die Ausschaltung ungünstiger Lebensbedin­gungen zu erwarten(Tizard 1960; Tizard & Tizard 1974; Tizardetal. 1975; Morris 1969; Günzburg& Günzburg 1973). Eine breite Palette verschiedenartiger Wohn­möglichkeiten wurde im Laufe der Zeit entwickelt. Die Skala reichte von Wohn­heimen, die Hilfeleistungen ganztägig an Ort und Stelle anboten, bis zu Wohnun­gen und Kleinen Häusern, von denen die Bewohnen per Telefon sofortige Hilfe­leistungen oder Rat anfordern konnten.

Persönlichkeitsentwicklung und Wohnheimregime

Es waroft nicht leicht, einen Kompromiß zwischen dem Wunsch nach Normalität und den Notwendigkeiten zu schließen, die das Zusammenleben von dreißig bis vierzig Hilfe benötigenden schwer be­hinderten Menschen mit sich bringen. Grundlegende Untersuchungen hatten Kriterien ausgearbeitet, die zur Unter­scheidung von Wohngruppen dienten. Es konnten Wohngruppen, die durch ihr altmodisches Regime eine spontane Per­sönlichkeitsentwicklung behinderten, von Wohngruppen unterschieden werden, die es ermöglichten, in menschlicher und pädagogischer Hinsicht, günstige Grund­

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Aufgabenorientierte Persönlichkeitsentwicklung

lagen für eine Förderung zu schaffen, (King& Raynes 1968; King etal. 1971). Diese Untersuchungen hatten wenig spür­baren Einfluß auf die Gestaltung und Atmosphäre der neuen Wohnheime in der Gemeinschaft. Im allgemeinen wird auch heute noch die Qualität der Wohn­stätten entweder nur vom physischen Standpunkt aus beurteilt z.B. wie viele Einbettzimmer für die Bewohner vor­handen sind oder auf Grund der von den Mitarbeitern vermittelten freundli­chen Atmosphäre. Diese Kriterien soll­ten selbstverständliche sine qua non sein. Sie können aber ein solches Wohnheim nicht von einerguten, aber trotzdem entwicklungshemmenden, traditionellen Anstalt, und auch nicht von einem Hotel im Familienbetrieb differenzieren. Es müssen noch andere Faktoren berück­sichtigt werden, wenn man sicherstellen möchte, daß sich das Gruppenheim von heute nicht zu einer kleinen Anstalt ent­wickelt, sondern aktiv zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von behin­derten Menschen beiträgt.

Die Tatsache ist besorgniserregend, daß es die neuen Wohnbedingungen in man­cher Hinsicht verfehlen, die Unabhän­gigkeit der Bewohner zu fördern. Es wurde kommentiert, daßdie Heime in einem gewissen Ausmaß nicht fördernd sind, und daßweitere Verbesserungen in der Organisation der Heimfürsorge notwendig sind, damit Heime eine volle fördernde Umgebung bieten und damit ihren erklärten Zweck, nämlich die Un­abhängigkeit der Insassen auf das Nach­drücklichste zu fördern, erfüllen kön­nen(Campbell, 1971). Diese Beobach­tung, die schon in den 70er Jahren ge­macht wurde, mußte zwanzig Jahre spä­ter von anderer Seite wiederholt wer­den. Es wurde darauf hingewiesen, daß auch in den offenen Gemeinschaftshei­men Anstaltspraktiken immer noch vor­handen seien. Folgende Anstaltspraktiken sind Beispiele hierfür: Die Räumlichkei­ten im Heim sind nicht allgemein zu­gänglich. Das Privateigentum der Heim­bewohner ist minimal. Die Mitarbeiter überwachen und servieren den Heimbe­wohnern lieber die Mahlzeiten, als mit ihnen zu essen(Beail 1989).

Aus demAdult Training Centre wird dasSocial Education Centre

VielePatienten wurden innerhalb ei­ner kurzen Zeitspanne aus denKran­kenhäusern entlassen, da sie nicht län­ger der Krankenhauspflege bedurften. Dies stellte die Sozialarbeiter nicht nur vor das Problem, die ehemaligenPati­enten in geeigneten Wohnstätten unter­zubringen, sondern warf auch das Pro­blem auf, geeignete Arbeit und Beschäf­tigung für sie zu finden. Neben der Grup­pe derEx-Patienten entstand die Grup­pe der vielen geistig behinderten Men­schen, die selbst wenn es nötig wurde, erst gar nicht in den Krankenhäusern aufgenommen wurden. Es wurde zum Beispiel nicht als Grund für eine Kran­kenhauseinweisung akzeptiert, daß El­tern nicht mehr länger für den Behinder­ten sorgen konnten. Dadurch vergrößerte sich noch die wachsende Zahl der behin­derten Menschen, für die Arbeit und Wohnung gefunden werden mußten. Um mit den wachsenden Anforderungen Schritt zu halten, mußte die Anzahl der sogenanntenAdult Training Centres (geschützten Werkstätten) beträchtlich vergrößert und die Kontakte mit der In­dustrie vervielfältigt werden. Die indu­striellen Tätigkeiten unterschieden sich innichts von den bis zu diesem Zeitpunkt in den fortschrittlichsten Anstalten durch die Heimbewohner ausgeführten Arbei­ten.

Schwerpunktverlagerung vom Arbeitstraining zur Sozialerziehung

Mit der Einsicht, daß sich die Wirt­schaftsstruktur in den letzten 20 bis 30 Jahren in vieler Hinsicht wesentlich ge­ändert hatte, wurde die Wirksamkeit ver­schiedener Fördermaßnahmen neu über­dacht. Die enge Anlehnung derAdult Training Centres an die Industrie galt nicht mehr wie noch vor einigen Jahren als die therapeutisch fördernde Maßnah­me par excellence. Die Überbetonung der industriellen Arbeit hatte zuguterletzt leider auch zu Mißständen geführt. So wurden beispielsweise Trainings-Prinzi­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVIII, Heft 1, 1992