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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Thomas Rammsayer& Arno Koch*

nen sich Säuglinge mit DS durch eine geringere Ansprechbarkeit gegenüber Stimuli in ihrer Umwelt aus, außerdem sind sie ruhiger, was sich darin ausdrückt, daß sie sich weniger bewegen und weni­ger schreien als andere Kinder. Einher­gehend mit diesen DS-typischen Verhal­tensweisen notierten Brouseau& Brai­nerd(1928) einen auffallend niedrigen Muskeltonus und eine verminderte takti­le Sensibilität als weitere charakteristi­sche Symptome des DS. Die ersten ex­perimentellen Belege für ein verlang­samtes Reaktionsverhalten von Perso­nen mit DS wurden von Berkson(1960) vorgelegt. Berkson(1960) verglich die Reaktionszeiten von institutionalisierten DS-Versuchspersonen und geistig Be­hinderten undifferenzierter Ätiologie (GB). Die DS-Versuchspersonen wiesen signifikant längere Reaktionszeiten auf im Vergleich zu den GB-Versuchsper­sonen. Verlangsamte Reaktionen bei Menschen mit DS wurden auch schon von Hoepfner(1933) beschrieben, der darin eines der wesentlichen psychophy­sischen Merkmale dieser Personengruppe sah und für dieses Phänomen den Begriff Mongolenpause einführte. Von ande­ren Autoren wurde die verlangsamte Re­aktionsgeschwindigkeit mit dem beim DS häufig zu beobachtenden erniedrigten Muskeltonus in Verbindung gebracht (Hillard& Kirman 1957; Knights, Atkin­son& Hyman 1967; Morris, Vaughan& Vaccaro 1982). Frith& Frith(1974) inter­pretierten die geringe psychomotorische Leistungsfähigkeit von Menschen mit DS, die nach Neuhäuser(1990) insbe­sondere durch Artikulationsschwierigkei­ten sowie ungeschickte und unkoordi­nierte grob bzw. feinmotorische Bewe­gungen augenfällig wird, als einen Hin­weis auf eine Beeinträchtigung bei der Entwicklung motorischer Programme, die das Individuum in die Lage versetzen, zielgerichtete Bewegungen automatisert und damit schnell und zuverlässig durch­zuführen. Ohne die Nutzung solcher vor­programmierter Bewegungsmuster wird zur Steuerung der Bewegung eine visuel­le oder propriozeptive Ausführungskon­trolle notwendig, die zwangsläufig den Bewegungsablauf verlangsamt. Es ist von daher nicht überraschend, daß Menschen

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Psychomotorische Leistung bei Down-Syndrom

mit DSabnormally slow(Frith& Frith 1974, 298) sind. Als mögliche Ursache dieser psychomotorischen Schwäche be­trachten Frith& Frith(1974) eine bereits von Davidoff(1928) beschriebene und von Crome, Cowie und Slater(1966) bestätigte neuroanatomische Auffällig­keit von Menschen mit DS, nämlich das im Vergleich zu Nicht-Behinderten deut­lich verkleinerte Cerebellum. Tatsäch­lich scheint das Cerebellum eine entschei­dende Rolle bei der Entwicklung motori­scher Programme zu spielen(Evarts 1977), was nach Henderson, Morris und Frith(1981) auch zu einer ausgeprägten grobmotorischen Leistungsbeeinträchti­gung von Menschen mit DS im Vergleich zu nichtmongoloiden geistig Behinder­ten führt.

Unter Berücksichtigung dieser Ergeb­nisse scheint die Annahme gerechtfertigt zu sein, daß Menschen mit DS im Sinne des Differenzmodells der geistigen Be­hinderung in ihrer motorischen Leistungs­fähigkeit im Vergleich zu nichtmongo­loiden geistig Behinderten in spezifi­scher Art beeinträchtigt sind, daß die Verlangsamung der Reaktion bei Perso­nen mit DS besonders groß ist(Wendeler 1988) und sie sich von anderen geistig Behinderten mit vergleichbarer Intelli­genz und gleichem Lebensalter konsi­stent durch längere Reaktionszeiten un­terscheiden(Johnson& Olley 1971). Die Durchsicht der vorliegenden Studien zu Reaktionszeitunterschieden zwischen Menschen mit DS und GB läßt jedoch keinesfalls solch eine eindeutige Inter­pretation, wie sie aufgrund des Differenz­modells der geistigen Behinderung zu erwarten wäre, zu. Während die Untersu­chungen von Berkson(1960), Hermelin (1964), Hermelin und Venables(1964) sowie Wallace und Fehr(1970) eine Verlangsamung der motorischen Reak­tionszeiten beim DS im Vergleich zu GB zu belegen scheinen, konnte ein solcher Unterschied in den Untersuchungen von Knights et al.(1967), Clausen(1968) und MacKay und Bankhead(1983) nicht be­stätigt werden. Bei all diesen genannten Studien wurde jeweils die Gesamt-Reak­tionszeit als abhängige Variable erfaßt, d.h. innerhalbeiner Reaktionszeitaufgabe wurden nicht verschiedene Reaktions­

zeit-Komponenten getrennt analysiert. Anwar(1981) kritisiert dieses im Rah­men von Reaktionszeituntersuchungen bei geistig Behinderten bislang übliche Reaktionszeitparadigma, weil es diffe­renziertere Analysen, die eine getrennte Bewertung von Lift-off- und motorischer Ausführungszeit erlauben würden, nicht ermöglicht. Mit Lift-off-Zeit wird in die­sem Zusammenhang die Zeitdauer von der Präsentation des imperativen Reizes bis zur Initiierung einer motorischen Reaktion bezeichnet, während die Aus­führungszeit die Zeitdauer der motori­schen Reaktion repräsentiert. Sollten der erniedrigte Muskeltonus oder die einge­schränkte generelle Fähigkeit zur Ent­wicklung effizienter motorischer Pro­gramme tatsächlich für Reaktionszeit­Unterschiede zwischen Menschen mit DS und GB verantwortlich sein, müßten sich solche Unterschiede insbesondere in der motorischen Ausführungszeit nach­weisen lassen. Die vorliegende Untersu­chung ist somit ein Beitrag zur Klärung der Frage, ob bei Menschen mit DS im Sinne einer differenzorientierten Sicht­weise eine spezifische motorische Be­einträchtigung vorliegt, die sich in einer langsameren Ausführungszeit beim DS im Vergleich zur GB manifestieren müß­te. Weiterhin soll die Frage untersucht werden, ob sich Unterschiede in der Lift­off-Zeit aufzeigen lassen, die auf spezi­fische Leistungsdifferenzen bei der zentralnervösen Reizverarbeitung beim DS im Vergleich zur GB hinweisen könn­ten.

Methode Versuchspersonen

An der Untersuchung nahmen 30 nicht­mongoloide Versuchspersonen mit gei­stiger Behinderung undifferenzierter Ätiologie(GB) und 30 geistig behinderte Versuchspersonen mit Down-Syndrom (DS) teil, die hinsichtlich Geschlecht, Alter und Beeinträchtigung der intellek­tuellen Leistungsfähigkeit(Behinde­rungsgrad) kontrolliert waren. Da zur psychodiagnostischen Erfassung der all­gemeinen intellektuellen Leistungsfähig­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1992

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